Wie kann man mit dem Tod seines Kindes umgehen, den man selber gewollt und mit herbei geführt hat? Ein Ehepaar erzählt von seinem Sohn, der behindert zur Welt gekommen wäre.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Stuttgart - Der Fötus sah ganz normal aus. „Es war ein fertiges Menschlein“, sagt die Mutter. Nach der Geburt wollte sie es nicht bei sich haben, sie wollte es nicht berühren. „Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.“ Bettina Kramer hat sich stattdessen in den OP schieben lassen, wo ihr der Mutterkuchen herausoperiert wurde. Später standen sie und ihr Mann Oliver neben der Schachtel, in der ihr Sohn auf einem Laken lag. Er war 20 Zentimeter groß und 180 Gramm leicht, viel zu klein für diese Welt. Etwa eine Stunde haben sie ihn angesehen, ihn segnen lassen, Erinnerungsfotos gemacht, Fußabdrücke verewigt, sich verabschiedet. Das Kind war gestorben. Dass es so gekommen ist, war für die Eltern die schwerste Entscheidung ihres Lebens.

 

Das Ereignis liegt ein Jahr zurück. Die offizielle Geschichte ist, dass Bettina Kramer eine Fehlgeburt hatte. Die wahre Geschichte erzählen die beiden nur dann, wenn ihre wirkliche Namen nicht gedruckt werden. Eine Untersuchung des Fruchtwassers hatte ergeben, dass ihr Kind das Downsyndrom hat. Die Kramers ließen die Schwangerschaft nach etwas mehr als vier Monaten abbrechen. Das macht ihnen ziemlich zu schaffen.

Während die Kramers darüber reden, sitzen sie in einem Zimmer im Stuttgarter Hospitalhof. Während der vergangenen Monate waren sie regelmäßig hier, bei einer Trauergruppe für Eltern nach einem Schwangerschaftsabbruch. In der Region ist sie die einzige, angeboten von Martin Klumpp, Prälat im Ruhestand, und Dorothee Schief, der Leiterin der psychologischen Beratungsstelle der evangelischen Kirche.

Zwischen November und April treffen sich die Trauernden einmal im Monat. Es sind zum Beispiel Frauen, deren Männer kein Kind wollten, oder Eltern, die ein behindertes oder krankes Kind bekommen hätten. Für Bettina und Oliver Kramer war diese Gruppe die Rettung. „Man ist unter Leuten, die einen verstehen“, sagt sie. „Man ist nicht mehr der einzige Mensch auf der Welt, dem das passiert ist. Wer das nicht selbst erlebt hat, kann es nicht verstehen.“ In ihrem Blick spiegeln sich die vergangenen Monate.

„Man denkt diese Gedanken zwar an, aber nicht zu Ende“

Alles beginnt mit Routine. Weil die werdende Mutter Anfang 40 ist, hat ihr der Frauenarzt zu pränataler Diagnostik und Feinultraschall geraten. Bettina Kramer ist in der 17. Woche, das Procedere ist ihr bekannt. Als sie mit ihrem heute dreijährigen Sohn schwanger war, ist ebenfalls mit einer Nadel Fruchtwasser entnommen worden. Damals lief alles glatt, warum sollte es diesmal anders sein? „Man ist guter Hoffnung“, sagt sie. „Man denkt diese Gedanken zwar an, aber man denkt sie nicht zu Ende“, sagt ihr Mann. Bis dahin war das gemeinsame Leben wie im Bilderbuch verlaufen. Mit Anfang Dreißig hatten sich die beiden kennengelernt, ein paar Jahre später haben sie geheiratet, ein Haus gebaut, in den Flitterwochen ist sie das erste Mal schwanger geworden.

Bettina Kramer liegt auf dem Untersuchungstisch, über ihr flimmert ein Bildschirm. Sie sieht ihren Bauch von innen, der Arzt sieht Auffälligkeiten. Die Kramers sind alarmiert, recherchieren daheim im Internet, machen sich verrückt. Es dauert einen unendlichen Tag, bis sie Gewissheit haben. Ihr Kind wird behindert sein. Bettina Kramer ist allein beim Frauenarzt, sie hört seine Stimme, was er sagt, sie nickt und antwortet. Ihr erster Impuls: Sie will das Baby nicht bekommen. Kaum sitzt sie im Auto, schreit sie, dann strömen die Tränen.

Als seine Frau anruft, sitzt Oliver Kramer im Wartezimmer bei einem Orthopäden. Er bricht sofort auf. Später weiß er nicht mehr, wie er nach Hause gekommen ist. „Ich war gedanklich komplett leer, ich habe nur noch funktioniert.“ Daheim wartet seine Frau weinend auf dem Sofa. Und dann bricht die schwerste Woche ihres Lebens an.

In den folgenden Tagen sprechen die Kramers mit dem Frauenarzt, gehen zur genetischen und zur psychosozialen Beratung. Sie wollen alles wissen, alles über das Downsyndrom, über Schwangerschaftsabbrüche. „Wir wollten die volle Information“, sagt er. Um die Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung über Leben und Tod.

Der Verlust des Zeitgefühls

Im Jahr 2013 sind in Deutschland 103 000 Schwangerschaften abgebrochen worden. Nur bei einer kleinen Anzahl gab es einen medizinischen Grund. Bei 100 000 Fällen griff hingegen die Beratungsregelung. Schwangerschaftsabbrüche sind hierzulande grundsätzlich rechtswidrig, die Paragrafen 218 und 219 im Strafgesetzbuch regeln allerdings, dass sie straffrei bleiben, wenn die Frau dem Arzt nachweist, dass sie sich beraten ließ. Der Abbruch ist bis zur zwölften Woche möglich. Bei medizinischen Gründen haben die Eltern bis zur Geburt Zeit.

In der Rückschau ging bei den Kramers alles rasant, doch sie verlieren in dieser Woche im Oktober 2013 ihr Zeitgefühl. Die Uhren ticken anders. „Wir haben nur von einem Moment zum nächsten gedacht“, sagt sie.

Die Entscheidung fällt am Abend des 7. Oktobers. Den Tag über sitzen sie da, reden, schreiben Gedanken aus sich heraus. „Sonst dreht sich alles“, sagt Oliver Kramer. Die Erkenntnis, dass sie sich ein Leben mit einem behinderten Kind nicht vorstellen können, ist hart. Noch härter ist es, die Antwort auf das Warum zu suchen. „Wenn man alles zu Ende denkt und fühlt, kommt man irgendwann an den Kern“, sagt er. „Da tun sich seelische Abgründe auf“, sagt seine Frau. Diese Abgründe wollen sie mit niemandem sonst teilen.

Zum Schluss liegt eine Pro-und-Kontra-Liste vor ihnen. Datum drauf, dann unterschreiben sie. Die Entscheidung soll hieb- und stichfest sein, sie wollen sich gegen Unsicherheiten absichern. Es ist ein Vertrag.

Zwei Tage später checken die Kramers in der Klinik ein. Sie fürchten sich vor vorwurfsvollen Blicken. Heute sagt Bettina Kramer: „Wir wurden sehr einfühlsam betreut.“ Sie beziehen ein Einzelzimmer, hier wird ihr Kind auf die Welt kommen. Am Vormittag werden die Formalitäten erledigt, am Mittag wird die Geburt eingeleitet. Die Ärzte haben die Eltern darauf vorbereitet, dass es sich über mehrere Tage hinziehen kann. Der Körper lässt den Fötus nicht so einfach los. Doch dann geht alles sehr schnell. In der folgenden Nacht, um Punkt 4.30 Uhr, wird ihr Sohn geboren.

Die Stunden danach

„Nach der Entscheidung war ich komplett zielgerichtet“, sagt sie. „Ich habe nur noch geradeaus geschaut, nicht rechts, nicht links.“ Sie nennt es heute Selbstschutz. „Die Angst kam trotzdem. Die Angst, dass ich unter der Geburt moralische Bedenken kriege.“ Ihr Mann ist wie in Trance. Als sie später im OP liegt, sitzt er in der Morgendämmerung auf einer Bank vor der Klinik, raucht eine nach der anderen, die Tränen laufen ihm über das Gesicht. „Ich war nur derjenige, der dabei war, aber ich war nicht körperlich betroffen“, sagt er ein Jahr später. Aber hat er deshalb weniger gelitten?

Männer trauern anders als Frauen. Oliver Kramer ist der zurückhaltende Typ, er lässt über weite Strecken seine Frau erzählen. Bettina Kramer hat sich für drei Monate krank gemeldet, er ging nach zwei Wochen wieder zur Arbeit. Für Bettina Kramer hat sich das angefühlt, als wäre er schon drüber weg. „Man muss erkennen, dass die Trauer unterschiedlich ist“, sagt er. Doch wie sollte er ihr das begreiflich machen? „Man kann ja vieles sagen.“ Die beiden haben aufgehört, darüber zu reden. Um den Jahreswechsel herum stand ihre Ehe auf Messers Schneide. „Ich habe mich von Gott und der Welt verlassen gefühlt“, sagt sie.

In der Stuttgarter Trauergruppe ist Platz für solche Sorgen. Dort merken die Männer und Frauen, dass Trauer nicht gleich Trauer ist. Menschen trauern weder gleich noch gleichzeitig. Martin Klumpp sagt, es sei wichtig, aus sich herauszukommen. „Gefühle verändern sich durch das Fühlen der Gefühle“, sagt er. Irgendwann könnte so die Erkenntnis reifen: „Was passiert ist, ist traurig, aber man kann damit leben. Es gibt ein neues Ich, zu dem diese schlimme Erfahrung gehört.“

Erinnerung in einem Kästchen

Martin Klumpp bietet seit vielen Jahren Trauergruppen an. Für Männer, die um ihre Frauen trauern, für Frauen, die um ihre Männer trauern, für Eltern, die um ihre Kinder trauern. Und er begleitete auch schon eine alte Frau an ihrem Sterbebett. In jungen Jahren hatte sie eine Schwangerschaft beendet, ihre Gefühle hatte sie damals weggesperrt, kurz vor dem Tod brachen sie noch hervor. Viel zu spät. Auch wegen dieser Frau hat Martin Klumpp die Trauergruppe gegründet.

Familie und Freunde reagieren nach einem Schwangerschaftsabbruch oft nicht wie erwartet. Leute, die einem vermeintlich nahestanden, wenden sich ab oder leben einfach ihr Leben weiter. Nicht selten fehlt das Verständnis dafür, warum es Eltern nach einem Schwangerschaftsabbruch schlecht geht. „Dadurch, dass der Abbruch quasi legalisiert ist, ist es normal“, sagt Martin Klumpp. Man hat ihn schließlich gewollt. Was gibt es da also zu trauern?

Inzwischen kann Bettina Kramer das Kästchen hervorholen und öffnen, ohne zu verzweifeln. Darin verwahrt sie alles, was ihnen von ihrem zweiten Sohn geblieben ist. Das Bild vom Ultraschall, eine Spieluhr in Form eines Elefanten, Informationsbroschüren, Fotos von einem Ausflug in den Wildpark mit Schwangerschaftsbauch, Fotos von dem zu früh Geborenen. „Ich habe Schuldgefühle“, sagt sie. „Und ich denke, dass ich sie, wie die Trauer, mein Leben lang haben werde.“

Ihr Kind ist auf dem Waldfriedhof in Böblingen begraben. Dort gibt es eine Gedenkstätte für die Kleinsten der Kleinen. Bei der Beerdigung zwei Wochen nach der Geburt waren ungefähr 50 Menschen anwesend, die Kramers kannten niemanden. Sie kamen ganz alleine zu der Sammelbestattung.

Bettina Kramer will noch mal schwanger werden. Wenn es klappt, wird sie wieder zum Frühtest gehen. Auch wenn das Paar nicht weiß, was dann passiert.