Blut, Schweiß und Videos: Frank Castorf gibt mit „Tschewengur“ nach dem Roman von Andrei Platonow seinen Einstand in Stuttgart. Fünf Stunden lang stürzt sich das Ensemble in barbarisch-poetische Episoden rund um Tod, Erlösung und Kommunismus.

Stuttgart - Es ist ein heftiges Assoziationsgewitter, das sich an diesem Fünfstunden-Abend über dem Publikum entlädt. Zu hören und zu sehen sind philosophischer Donner, poetische Blitze und in fiebriger Hysterie ausgestoßene Sätze, die unablässig auf die Zuschauerköpfe herunterhageln. Dazu ein das vielfältig aufgesplitterte Geschehen flankierender Soundtrack, der für den guten Musikgeschmack des Regisseurs spricht: sinfonischer Schostakowitsch im ersten Teil der Inszenierung, die bluesigen Rolling Stones im zweiten Teil, ergänzt um ebenfalls bluesig aus dem Off kommende, mit grandioser Slide-Gitarre gespielte Songs des Kroaten Bebé Na Volé. Sein eindringliches „Sunny Days are over“ begleitet zuletzt auch die Apokalypse, die kurz nach Mitternacht über die verbliebenen Einwohner von Tschewengur hereinbricht: Auf der Videoleinwand krepiert das Häuflein der zehn Bolschewiken in einem Maisfeld, nicht ohne dabei literweise Blut zu spucken, zu erbrechen und sonstwie auf den Kleidern zu verschmieren. „Tschewengur“ ist eben auch ein Marathon der Überforderung aller Sinne.

 

Etwas anderes als eine strapaziöse Verausgabungsorgie ist freilich kaum zu erwarten gewesen. Frank Castorf ist ein Regisseur, der Spieler und Zuschauer bis an ihre Schmerzgrenzen und darüber hinaus führt, ohne Rücksicht auf irgendwen oder irgendwas – in einem tabulosen Hochenergie-Theater, das er in den vergangenen Jahren allerdings immer seltener dort verwirklicht hat, wo er herkommt. Er steht als Intendant der Berliner Volksbühne vor, liebt aber auch mit 64 Jahren noch das Reisen. München, Hamburg und Wien sind in diesem Jahr seine Regiestationen gewesen, jetzt also ist Stuttgart dran, wo er während seiner gesamten Laufbahn tatsächlich noch nie gearbeitet hat. Ein Debüt! Zu danken ist dieser Einstand den Connections von Armin Petras, dem Chef im Schauspiel – und mitgebracht hat Castorf eine veritable Ausgrabung und Entdeckung: das besagte „Tschewengur – Die Wanderung mit offenem Herzen“ nach dem Roman des russischen Schriftstellers Andrei Platonow.

Gorki spricht das literarische Todesurteil

Eingeweihte kennen den Dichter, aber sonst? Sonst ist der 1899 bei Woronesch geborene, 1951 unter armseligen Umständen in Moskau gestorbene Platonow bei uns weithin unbekannt. Seine Bücher sind in den siebziger Jahren, als sie von einer Generation junger Russen wiederentdeckt wurden, auch ins Deutsche übersetzt worden, aber heute längst vergriffen. Insofern ist man nun dankbar für das Vorspiel, das Castorf und sein Dramaturgen-Team dem Publikum gönnen: In schicker Nachtclub-Garderobe gewinnen Katharina Knap und Hanna Plaß dem Geheimdienstdossier, das der KGB einst über den in Ungnade gefallenen Platonow anfertigen ließ, einen lehrreich erhellenden Dialog ab. Mehrfach, das erfährt man in ihrer hochtourigen Wechselrede, hat sich der verzweifelte Autor an seinen einflussreichen Kollegen Maxim Gorki gewandt, flehend, er möge ihn bei seinen Publikationsvorhaben unterstützen. Die Briefe blieben unbeantwortet. Stattdessen die zutreffende Notiz des Staatsdichters: Platonows „Tschewengur“ strotze vor „irrealen Inhalten, die an einen finsteren Albtraum grenzen“.

Auch wenn dies in der hoffnungsfrohen jungen Sowjetunion einem literarischen Todesurteil nahe kam: mit seiner Einschätzung liegt Gorki richtig. Jenseits sozialkritischer Nörgelei einerseits und staatlich verordnetem Optimismus andererseits schildert Platonow auf fünfhundert Seiten in barbarisch-poetischen Episoden den Aufstieg und Fall von Tschewengur, der titelgebenden Stadt in der Steppe, in der nach der siegreichen Revolution der wahre Kommunismus eingeführt werden soll. Deshalb machen sich Kopjonkin und Dwanow, Verwandte von Don Quijote und Sancho Panza, auf den Weg in dieses Utopia. Was sie dort erleben, ist allerdings unerfreulich: Die Tschewengurer sind so besoffen vom Glauben, das gesamte Dasein verändern zu können, dass sie selbst den Tod für überwindbar halten. Sie setzen auf die Wiedererweckung der Körper, mit der Folge, dass sie, von der politisch-metaphysischen Reinheit ihres Tuns überzeugt, einander bedenkenlos hinschlachten: eine Selbstvernichtung, die unter Stalin zur Realität wurde.

Die Lokomotive der Bolschewisten

Um diesen grotesken Bolschewisten-Stoff auf die Bühne zu wuchten, hat sich Castorf wieder der Mithilfe seines Lieblings-Bühnenbildners versichert. Aleksandar Denic versammelt alle Schauplätze von „Tschewengur“ in einer gewaltigen Großinstallation, in der sich die Summe aus einem Dutzend Einzelbilder genial materialisiert. Symbolgehalte inbegriffen: die Drehbühne zeigt auf der Vorderseite eine riesige, in die Industrialisierung brausende Lokomotive, an deren Rückseite eine ebenso riesige Don-Quijote-Windmühle hängt. Zukunft und Vergangenheit, Wunsch und Wirklichkeit, Rausch und Ernüchterung verschmelzen zu einer imponierenden Bühnenmetapher, die gleichwohl Raum zum Spielen lässt. Der Bauch der Lokomo-Mühle beherbergt die Stuben und Holzverschläge, in denen die Darsteller ihren eigenen Turbo anwerfen, was wiederum die meiste Zeit auf die an einem Strommasten hängende Leinwand übertragen wird. Castorf bleibt Castorf: das multiperspektivische Erzählen mittels Video ist sein Ding.

Natürlich trägt auch dieses planvoll entfesselte Bombardement mit Szenen zur Überforderung der Zuschauer bei. Zur Pause nach 140 Minuten verlässt ein Drittel des Publikums den Saal. Teil eins ist vorüber, ein düsteres Nachtstück voller Sterben und Tod, das mit melancholischem Ingrimm auf den Skandal der Endlichkeit des Lebens hinweist. Castorf variiert diese Szenen endlos und stellt eine Dauerdepression im Dämmerlicht her, die alles vermissen lässt, was Teil zwei seiner Seelen-Expedition auszeichnet: Rhythmus, Frische, Humor und zumindest relative Klarheit.

Tolle Hysterikerin: Sandra Gerling

Während auf der Leinwand – neben Einsprengseln von Filmen aus dem Sowjetalltag – rollende Lokomotivräder mit martialisch zuckenden Treibstangen zu sehen sind, erreichen Kopjonkin und Dwanow ihren Sehnsuchtsort – und Castorf lässt mit der Bitterkeit des enttäuschten Revolutionsliebhabers eine kunstvoll komponierte Schildbürger-Groteske von der Leine, in der sich die Rotgardisten als blutige Gottesnarren erweisen. Die Arbeit haben sie abgeschafft, weil die Kraft der Sonne und die Früchte der Erde sie ernähren werden, ganz ohne ihr Zutun. Die Genossen legen die Hände in den Schoß, doch das Ensemble stürzt sich mit Inbrunst in seinen Job. Die Darsteller spielen grell, schrill und überdreht, sie vercastorfen sich zusehends und erreichen dabei eine Betriebstemperatur, die dem kommunistisch verzückten, bestialisch verrückten Steppendorf angemessen ist. Ausnahmslos alle zehn Spieler überzeugen in ihren Vielfachrollen, selbstverständlich auch die ehemalige Castorf-Muse Astrid Meyerfeldt, doch zwei ragen aus dem Kollektiv hervor: Matti Krause mit der Energie eines Martin Wuttke sowie Sandra Gerling, in deren Diven-Mimik sich die Hysterie einer Kathrin Angerer und Sophie Rois geballt niederschlägt.

„Tschewengur“ in Stuttgart: in diesem Jahr ist es, trotz allem, Frank Castorfs bisher produktivste Zumutung. Aber auch sie braucht ein Publikum, das bereit ist, die theatralischen Messen des Meisters kultisch zu verehren. Ob sich diese Gemeinde in Stuttgart findet, ist mehr als fraglich. Die Inszenierung ist auch ein Risikospiel für den Intendanten Armin Petras, dem in diesem Fall nur viel Glück zu wünschen ist.

Aufführungen am 29. Oktober, am 7. und 22. November sowie am 13. Dezember.