Städte und Gemeinden gelten als „Wiege der Demokratie“. Über digitale Kanäle kann das Volk stärker in Entscheidungen mit einbezogen werden. Das ist gut, hat aber auch Risiken.

Regio Desk: Achim Wörner (wö)

Tübingen - Für manche mag es im ersten Moment erstaunlich anmuten: In Tübingen wird tatsächlich Kommunalpolitik im besten Sinne gemacht, was im allgemeinen Getöse um die Rolle des Oberbürgermeisters Boris Palmer als Sheriff der Stadt und ständiger Mahner in Sachen bundesweiter Asylpolitik bisweilen völlig unterzugehen droht. Mit der jetzt präsentierten App, mit der einer besseren Bürgerbeteiligung der Weg bereitet werden soll, betritt die Universitätsstadt freilich wieder einmal Neuland und zeigt sich innovativ – wie bei Fragen der Energie- oder Umweltpolitik oder beim Wohnungsbau.

 

Jeder Bürger ist gefragt

Die Idee, das Volk per Smartphone vor wichtigen Entscheidungen mit einzubinden und vonseiten der Politik ein Stimmungsbild einzuholen, ist so neu nicht. Im Rahmen von klassischen Bürgerbefragungen geschieht dies nicht nur in Tübingen schon lange; in Stuttgart wurde – wenn auch wenig erfolgreich – das Modell eines Bürgerhaushaltes erprobt, und auch öffentliche Anhörungen sind vielerorts längst Usus. Und doch eröffnet die App, die nach längerer Entwicklungszeit jetzt praxisreif ist, ganz neue Möglichkeiten: Jeder einzelne Bürger kann nun, sofern er über ein Smartphone verfügt, seine Meinung schnell und unbürokratisch kundtun. Das passt gut zur kommunalen Ebene, die aus gutem Grund als Keimzelle der Demokratie bezeichnet wird. So besteht nicht zuletzt die Chance, wieder mehr Menschen für die Politik zu interessieren.

Die digitale Stimmabgabe ist also einen Versuch wert. Ein Allheilmittel aber ist sie nicht. Unter anderem birgt sie die Gefahr, dass besonders aktive Gruppen mit Partikularinteressen Tatsachen schaffen – und damit dem aufs Gemeinwohl verpflichteten Gemeinderat eine unabhängige, souveräne Entscheidung erschweren. Dieses Risiko heißt es im Auge zu behalten.

achim.woerner@stzn.de