Ukraine-Flüchtlinge zweiter Klasse Odyssee ohne Happy End
Nach einer abenteuerlichen Flucht aus der Ukraine landen fünf junge Nigerianer, die dort studiert hatten, in Stuttgart. Hier werden sie wie Flüchtlinge zweiter Klasse behandelt.
Nach einer abenteuerlichen Flucht aus der Ukraine landen fünf junge Nigerianer, die dort studiert hatten, in Stuttgart. Hier werden sie wie Flüchtlinge zweiter Klasse behandelt.
Das Studium ist für viele junge Leute ein Abenteuer. Für Raymond, David, Yusuf, Princeben und Joseph, fünf Männer um die 20, allesamt aus Nigeria, war es das von Beginn an. Ihre Hörsäle lagen 5500 Flugkilometer von ihrer Heimat entfernt: in der Ukraine. Dort wurde das Abenteuer zu einem Albtraum. Er führte sie schließlich nach Stuttgart. Doch hier ist der Schlamassel noch nicht zu Ende. Ihre Zukunft ist ein einziges Fragezeichen.
Der Albtraum beginnt am 24. Februar mit dem russischen Angriff, der auch über die Köpfe der fünf Studenten hinwegdonnerte. Sie kannten sich damals zum Teil noch gar nicht, da sie an unterschiedlichen Orten studiert haben. David zum Beispiel, der Architekt werden möchte, lebte schon mehrere Jahre in der Ukraine. Mit Yusuf und Princeben trifft er am 26. Februar auf dem Hauptbahnhof von Kiew zusammen. Dort herrscht die schiere Panik. Menschenmassen überfluten die Bahnsteige. Auf die Heerscharen der Wartenden rieselt Schnee nieder.
Die drei Studenten fürchten um Leib und Leben, doch das kümmert niemanden. Sie müssen sich lange gedulden, bis ihnen die Flucht gelingt. Im ersten Zug, der vor ihren Augen gen Westen davonfährt, sitzen nur Kinder. Der zweite ist für Mütter mit Kindern reserviert. Als sie nach einem halben Tag des Wartens einen dritten Zug besteigen wollen, der leer auf dem Gleis steht, werden sie von Ukrainern abgewiesen. Sie hindern sie daran, in die Waggons zu gelangen. Das gelingt ihnen am Ende aber doch. So erreichen sie nach langer Bahnfahrt, die wegen Bombardements und Beschuss auf offener Strecke immer wieder zum Stehen kommt, schließlich Lviv. Dort harren sie einige Tage aus.
Joseph, ihr heutiger Mitbewohner, den die drei zuvor nie gesehen haben, hat unterdessen die Grenze nach Ungarn erreicht. Auch er muss sich in eine lange Warteschlange einreihen, die für ihn über Stunden keinen Meter vorankommt, da die ungarischen Grenzbeamten ihn und andere Menschen afrikanischer Herkunft schlichtweg ignorieren, teils auch grob zurückweisen. Nach einigen Stunden, während der sie solche Schikanen erdulden müssen, werden sie als „Nigger“ angesprochen. Als keiner reagiert, behandelt man sie wie Abfall auf der Straße. Joseph zwingt sich schließlich, die rassistische Ansprache zu überhören. Damit erreicht er, dass die Grenzer wenigstens einen Blick auf seine Papiere werfen. Er bekommt einen Stempel in den Pass und einen Erlaubnisschein, der ihm gestattet, sich für drei Monate in der Europäischen Union aufzuhalten.
Auf verschiedenen Wegen, teils über Berlin, teils über München, kommen die fünf im März nach Stuttgart – wo ihnen weitere Schikanen aber keineswegs erspart bleiben. Das beginnt mit praktischen Problemen: Sie glauben zunächst, problemlos eine Schlafgelegenheit zu finden, da sie auf ein Werbeversprechen der Ferienwohnungsbörse Airbnb vertraut hatten. Das Unternehmen wollte bis zu 100 000 Flüchtlingen aus der Ukraine eine vorübergehende Bleibe verschaffen. Einige der fünf geflüchteten Studenten hatten sich dafür schon Vouchers besorgt, berichten aber über unfreundliche Reaktionen: Die Vermieter hätten entweder drastisch die Preise erhöht, wenn sie ihrer ansichtig wurden – oder den Gutschein erst gar nicht akzeptiert.
Noch heikler ist die Frage, unter welchen Bedingungen (und wie lange) sie hierbleiben dürfen. Das erste deutsche Wort, was sie lernen mussten, heißt: „Fiktionsbescheinigung“. Das ist ein passähnliches Dokument, was bestätigt, dass sie ein Aufenthaltsrecht besitzen. Seit drei Monaten bemühen sie sich vergeblich um solche Papiere.
Die Rechtslage erscheint eindeutig – und ist doch nebulös. Eindeutig klingt die Anweisungen des Bundesinnenministeriums an die für das Aufenthaltsrecht zuständigen Ländern, wie mit Menschen wie Raymond zu verfahren ist. Im Behördendeutsch werden sie „sonstige nicht ukrainische Drittstaatsangehörige“ genannt. Sofern sie sich in der Ukraine rechtmäßig und nicht nur kurzzeitig aufgehalten hätten und „nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückkehren können“, sei ihnen der gleiche Schutzstatus einzuräumen wie Flüchtlingen mit ukrainischem Pass. Diese Maßgabe, heißt es ausdrücklich, „umfasst insbesondere Studierende“.
Nebulös ist aber, wie das in Stuttgart interpretiert wird. Die Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann lässt mitteilen, dass sie das Begehren der fünf Studenten für „auslegungsfähig“ hält. Andere Städte sind weniger restriktiv. Drei Bekannte der in Stuttgart gestrandeten Studenten haben in Mannheim eine Aufenthaltserlaubnis für ein bis zwei Jahre erhalten, einem weiteren gelang das in Reutlingen. In Stuttgart ist die Praxis anders. Schon bei ihrer Registrierung im Rathaus, so berichtet eine Flüchtlingshelferin, welche die fünf bei ihren Behördengängen begleitet, habe man den Männern gesagt, sie seien illegal hier und würden „eh abgeschoben“. Joachim Schlecht, Asylpfarrer der Evangelischen Landeskirche, hat deshalb eine empörte Mail an die Bürgermeisterin geschrieben. „Maßen sich da Leute Befugnisse an, die sie nicht haben?“, fragt er und will wissen, ob das mit eher einer „Überforderung des Systems“ oder „etwas mit strukturellem Rassismus zu tun hat“. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat die vom Rathaus vorgegebene Praxis bestätigt. Jetzt erhoffen sich der Asylpfarrer und seine Schützlinge Hilfe von der nächsten Instanz.
„Es fühlt sich an wie ein alltäglicher Krieg“, klagt eine junge Frau, welche die studentischen Kriegsflüchtlinge betreut. Bei den Behörden erlebe sie: „Die Leute sind rüde.“ Niemand fühle sich verantwortlich, die Beamten vermieden es nach Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen.
An eine Fortsetzung des Studiums ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Jeder der fünf Männer müsste erst einmal 10 000 Euro als finanzielle Garantie hinterlegen und fortgeschrittene deutsche Sprachkenntnisse nachweisen. Das Geld hätte in der Ukraine für ein komplettes Studium gereicht. Deutschunterricht können die fünf erst in Anspruch nehmen, wenn sie im Besitz der bisher vergeblich ersehnten „Fiktionsbescheinigung“ sind. Zudem werden ihre bisherigen Studienbescheinigungen aus der Ukraine nicht anerkannt. Immerhin durften sich einige aus der Clique für ein paar Tage wie geadelt fühlen. Als Gäste von Stipendiaten konnten sie kurze Zeit in den barocken Räumen der Akademie Schloss Solitude unterkommen. Trotz ihres Ärgers mit den Behörden: Die meisten Menschen in Stuttgart seien „sehr freundlich“, so der 21-jährige David. „In der Ukraine wurden wir manchmal angespuckt, hier gehen die Leute höchstens weg, wenn ihnen unsere Anwesenheit nicht passt.“
Die größte Freude dieser Tage ist da das Fußballtraining auf der Waldau bei den Sportsfreunden Stuttgart. Yussuf träumt sogar davon, als Profi anheuern zu können. Bei einem Volkslauf im Vorort Heumaden hat er seine Fitness schon mal unter Beweis gestellt. Mit der Startnummer 174 lief er auf einen der ersten Plätze.
Manchmal denken sie auch über eine Rückkehr in ihre Heimat nach. Der Staat würde sie dafür sogar entlohnen. Laut Asylpfarrer Schlecht erhalten freiwillige Rückkehrer Starthilfen zwischen 600 und 2000 Euro. „Damit hast du bei uns zu Hause schnell viele Freunde, aber das Geld ist schnell weg“, sagt David. Seine Eltern, mit denen er via Handy in Kontakt steht, hätten ihm geraten: „Mach, was das Beste für dich ist!“ Das Beste für ihn vermutet er aber nicht in Nigeria. „Dort gibt es keine Möglichkeiten für Menschen, die an Bildung interessiert sind“, sagt er. Alle berichten über üble Erfahrungen mit islamistischen Banden. Davids Bruder wurde seinen Berichten zufolge schon gekidnappt. Yussufs Familie sieht sich bedroht, weil sie Christen sind. Princebens Vater wollte sich politisch engagieren, dann wurde sein Haus beschossen.
Ihr Traum lässt sich mit einem deutschen Bürokratenwort beschreiben. Es heißt: Fiktionsbescheinigung. David fügt hinzu: „Wenn wir etwas erreichen können, dann strengen wir uns an und tun alles dafür.“