Die Opposition in der Ukraine wertet den Abzug der Polizei von den Protestlagern in Kiew als Zeichen, dass die Proteste endlich Wirkung zeigen. Doch trotz westlichen Drucks scheint eine Lösung der innenpolitischen Krise immer noch in weiter Ferne.

Kiew - Der erneute nächtliche Sturm auf den Maidan hat die ukrainische Opposition radikalisiert. „Es kann keine Kompromiss geben“, sagt Vitali Klitschko, eines der Gesichter der Opposition, am Mittwochabend. „Der einzige Weg ist der komplette Machtwechsel“, sagte der zum Politiker mutierte Box-Weltmeister. Klitschko forderte die demokratische Weltgemeinschaft dazu auf, Sanktionen gegen Staatspräsident Viktor Janukowitsch und seine engsten Mitarbeiter zu beschließen.

 

Auf dem Maidan kam es unterdessen zu regelrechten Schlachten zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften. Die versuchten in der Nacht auf Mittwoch Barrikaden rund um den Platz zu räumen. Während die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und die amerikanische Europa-Beauftragte Victoria Nuland in den etwas weiter vom Maidan entfernten Luxushotelsuiten schliefen, rückten Hundertschaften regulärer Polizei, Innenministeriumstruppen und auch wieder die gefürchtete „Berkut“-Sondereinheit zum Platz vor. Sie trieben sie die Demonstranten vor sich her, ohne allerdings exzessiv Gewalt einzusetzen.

„Kiew steh auf!“

Die Opposition versuchte via Twitter und Facebook Bürger zur Verteidigung des Maidan aufzubieten. „Kiew steht auf!“, hieß es verzweifelt. Aus dem besetzten Kiewer Rathaus am nahen Prachtstraße Chreschtschatik gossen Anhänger der nationalistischen Partei „Swoboda“ Wasser auf die Polizeikordons. Die Vereisung der Straße blieb als letzte Verteidigungsstrategie. Etwa Hundert Demonstranten versuchten derweil eine Menschenkette um das Rathaus zu bilden. Im nahen Gewerkschaftshaus harrten im Stab die drei Oppositionschefs Klitschko (Udar), Arsenij Jatseniuk (Batkiwtschina) und Oleh Tjanibok (Swoboda) aus.

Kurz nach zwei in der Nacht läuteten die Mönche im Michalskloster die Alarmglocke – so wie im Mittelalter bei Überfällen feindlicher Truppen auf die Stadt. Bald eilten Geistliche auf den nächtlichen Maidan und beteten. „Morgen steht hier eine Million“, riefen die Demonstranten den Sicherheitskräften zu. In den frühen Morgenstunden zog sich die Polizisten indes wieder etwas zurück. Tausende Ukrainer hatten sich inzwischen erneut auf dem Maidan versammelt und begannen mit dem Barrikadenbau. „Niemand hat Gewalt gegen friedlich Protestierende angewandt und niemand wird dies tun“, sagte Regierungschef Asarow am morgen nach dem missglückten Sturm. Es sei nur darum gegangen, zwei Hauptverkehrsadern wieder befahrbar zu machen, behauptete er .

Putin lockt die Ukraine

Welches Ziel Janukowitschs Machtapparat mit dem neuerlichen nächtlichen Sturm verfolgte, der allerdings weit weniger brutal war als vor zehn Tagen, ist unklar. Laut ukrainischen Presseberichten, hatte Russlands Präsident Putin bei dem letzten Treffen in Sotschi von Janukowitsch die Wiederherstellung der Ordnung im Lande gefordert und ihm dafür hohe Preisnachlässe bei den Erdgaslieferungen versprochen.

Die EU-Vertreterin Ashton, die noch kurz vor dem Sturm zusammen mit Jatsenjuk über den Maidan spaziert war, zeigte sich „traurig“ über den Polizeieinsatz gegen die friedlich Demonstrierenden. Nuland sagte, die USA seien „schockiert“. Ashton flog am Mittwoch nach einem Treffen mit den drei Amtsvorgängern Janukowitschs beunruhigt zurück nach Brüssel.

Die Frage nach dem Ausweg

Die Frage, die sich viele nun stellen, dreht sich darum, wie ein Ausweg aus der verfahrenen Lage aussehen könnte. Die EU hat nach einem von Janukowitsch auf Eis gelegten Partnerschaftsabkommen dem Vernehmen nach kaum noch Interesse, mit ihm weiterzuverhandeln. Der bisher auch von den schwerreichen ukrainischen Industriebossen gestützte Staatschef sucht dringend nach frischem Geld. Die Hoffnungen der Führung in Kiew richten sich deshalb nun auf den Dienstag kommender Woche. Dann kommt nach Kremlangaben in Moskau erneut die ukrainisch-russische Regierungskommission zusammen, um über konkrete Projekte zu beraten. Dabei könnte es auch um Aufträge für die am Boden liegende ukrainische Rüstungsindustrie gehen. Ob Russland dann aber konkrete Hilfszusagen macht, wird in Regierungskreisen in Moskau angesichts der instabilen Lage in Kiew bezweifelt. Schließlich hatten führende Politiker in Moskau betont, dass der Machtkampf zwischen Russland und der EU noch nicht am Ende sei. Und Hilfe, daran lässt der Kreml keinen Zweifel, gibt es für das „Brudervolk“ nur, wenn es sich auf die russische Seite schlägt.