Ukraine-Krieg und Pandemie Der Winter der Entbehrungen
Es braucht jetzt eine nationale Kraftanstrengung gegen Gasmangel, Inflation und schwaches Wachstum, meint unser Berliner Korrespondent Thorsten Knuf.
Es braucht jetzt eine nationale Kraftanstrengung gegen Gasmangel, Inflation und schwaches Wachstum, meint unser Berliner Korrespondent Thorsten Knuf.
Es ist noch gar nicht lange her, dass jeder interessierte Bürger hierzulande die aktuelle Corona-Inzidenz kannte. An der Entwicklung des Wertes hing nicht nur das persönliche Ansteckungsrisiko, sondern auch das Ausmaß der Freiheit. Nach Lage der Dinge könnte es bald einen anderen Wert geben, den die Deutschen ganz genau im Auge behalten. Er hat nichts mit der Pandemie zu tun, sondern mit dem Krieg in der Ukraine. Wieder geht es um Freiheit und um die Sehnsucht nach dem normalen Leben.
Das, was einst die Corona-Inzidenz war, könnten künftig die Füllstände der Erdgasspeicher in Deutschland sein. Bei 58,38 Prozent lagen sie am Mittwoch nach Angaben der Bundesnetzagentur. Seit der vergangenen Woche hat Russland seine Gaslieferungen in Richtung Deutschland im großen Umfang gedrosselt. Die deutsche Regierung ist überzeugt davon, dass das eine politische Antwort auf die umfangreiche Unterstützung ist, die der Westen der überfallenen Ukraine gewährt. Bleibt es bei der Kürzung oder versiegt der Gasfluss aus Russland ganz, dürfte Deutschland große Probleme bekommen, die Gasspeicher rechtzeitig bis zum Beginn der Heizsaison zu füllen.
Wenn es schlecht läuft, muss im Winter Gas rationiert werden. Unternehmen müssten dann ihre Produktion herunterfahren, Büros, Schulen, Schwimmbäder und Wohnungen blieben womöglich kalt. Die Preise für Energie und Lebensmittel sind bereits explodiert und dürften noch weiter steigen. Zudem sind viele Lieferketten gestört, was vorrangig eine Folge der Pandemie ist. Die Bundesregierung warnt bereits explizit vor einer Wirtschaftskrise, in der eine starke Inflation und ein schwaches Wachstum zusammenkommen. Die Folgen für Beschäftigung, Wohlstand und den Zusammenhalt der Gesellschaft könnten verheerend sein. Am Mittwoch kam in Berlin der Koalitionsausschuss von SPD, Grünen und FDP zusammen, um über mögliche Gegenmaßnahmen zu beraten – über die bereits beschlossenen Entlastungspakete hinaus.
Das ist die Lage in Deutschland. Sie ist sehr ernst. Russlands Machthaber Wladimir Putin führt nicht nur einen mörderischen Angriffskrieg in der Ukraine. Er versucht auch, ihre Unterstützer im Westen zu zermürben und zu spalten. Über die Instrumente dafür verfügt er. Eine andere Frage ist, ob Deutschland und seine Partner zulassen, dass Putin sein Ziel erreicht.
Deutschland braucht jetzt eine nationale Kraftanstrengung, selbstverständlich in enger Kooperation mit den anderen EU-Staaten. Das Land muss alle Hebel in Bewegung setzen, um die Energiekrise zu bekämpfen und die Inflation im Zaum zu halten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) belebt in der übernächsten Woche die „Konzertierte Aktion“ wieder, um den Preisauftrieb zu dämpfen. Er bringt Arbeitgeber und Gewerkschaften an einen Tisch, es geht unter anderem um Lohn- und Steuerpolitik. Das ist ein guter Ansatz.
Aber die Anstrengungen müssen darüber hinausgehen: Jeder Bürger und jedes Unternehmen kann bereits jetzt Energie sparen und so einen Beitrag dazu leisten, gut durch den Winter zu kommen. Politische Denkverbote darf es nicht geben. Das gilt gleichermaßen für die Verstromung der klimaschädlichen Kohle anstelle von Gas, einen befristeten Weiterbetrieb der verbliebenen Atomkraftwerke oder ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen jeder Art muss schneller sinken, und zwar innerhalb weniger Wochen und Monate. Zunächst geht es darum, über den Winter zu kommen. Auf mittlere Sicht aber geht es um Freiheit und Wohlstand. Die sollten alle Mühen wert sein.