Anna bittet, sie nach 15 Uhr anzurufen– aus gutem Grund. Davor ist sie für ihre Schülerinnen und Schüler da. Von Stuttgart aus hält sie Kontakt: in die Schweiz, nach Italien, nach Polen – und nach Charkiw. Einige ihrer Schüler seien dort geblieben. „Sie sind immer noch in Gefahr“, sagt die 34-jährige Ukrainerin. Sie verfolgten den Unterricht aus der U-Bahn-Station – wenn das Internet funktioniert. „Die Einheiten mit mir sind eher therapeutisch“, sagt die Sonderpädagogin, die mit ihrem Ehemann Serhii und ihrem vierjährigen Sohn Ivan am 25. März in Stuttgart angekommen ist. Sie sind eine von vier Familien mit sehbehinderten Kindern, die die Stuttgarter Nikolauspflege bei sich aufgenommen hat und die von dieser auch betreut werden. Das Ungewöhnliche bei Anna und Serhii: Sie haben auch anderen zur Flucht verholfen. Menschen, die alleine nicht hätten fliehen können.
Dem Vierjährigen gefällt dieses „Spiel“ nicht
„Jeder von uns hat seine Geschichte“, sagt Anna. Die Millionenstadt Charkiw gehörte zu den Zielen, auf die gleich zu Kriegsbeginn Bomben niedergingen. Was sollte sie antworten, als ihr Sohn Ivan fragte, was das ist? „Das ist nur ein Spiel“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Es klappte nicht. „Ich mag dieses Spiel nicht, es soll aufhören“, habe er gesagt. Sie weiß, dass es in Stuttgart jetzt schwer für ihn ist: Sein Sehvermögen beträgt knapp drei Prozent, alles ist neu. Dann die fremde Sprache, die er nicht mal mittels Bildern lernen kann. „Aber der Krieg ist härter.“
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Dennoch ist nicht Ivan ursprünglich der Grund gewesen für ihren Aufbruch. Anna arbeitete in Charkiw in einer Sonderpädagogischen Schule, auch für Blinde und Sehbehinderte. Als sie eine Woche nach Kriegsbeginn erfuhren, dass die ukrainische Hilfsorganisation Право вибору (das Recht zu wählen) Freiwillige sucht, die Menschen mit Behinderung auf der sonst für sie unmöglichen Flucht begleiten, meldete sich das Paar. Für ihren Einsatz mussten sie nach Lwiw, in den Westen der Ukraine. Mehr als 100 Menschen erwarteten sie dort, Erwachsene und Kinder. Viele seien sehr verunsichert gewesen, erzählt sie. Mit 68 von ihnen hätten sie und andere Freiwillige Tage später die Grenze nach Polen überquert. Dort sei jedoch niemand vorbereitet gewesen für „solche Fälle“. Es seien zwar viele Helfer vor Ort gewesen, aber es habe auch Chaos geherrscht, sodass passierte, was auf keinen Fall passieren sollte: Zwanzig Personen aus der Gruppe gingen verloren – ein Schock für die Freiwilligen. „Wir haben sie fast eine Woche lang gesucht, bis wir alle gefunden haben“, erzählt Anna.
Um die Katze muss sich der Junge nicht mehr sorgen
Ursprünglich habe die Familie nicht selbst flüchten wollen. „Der Plan war, den Menschen zu helfen und zurückzukehren.“ Doch wieder zurück ins Kriegsgebiet mit Ivan? Sie reisten weiter – gemeinsam mit behinderten Menschen nach Frankfurt, 55 Leute seien sie da noch gewesen. Von dort gelangen sie als Familie nach Stuttgart.
Serhii sei bis heute für die Hilfsorganisation aktiv, berichtet Anna. Er bearbeite Anfragen von Menschen mit Behinderung und Angehörigen, halte Kontakt, unterstütze mit Rat. Manche wollten zurück, weil sie zum Beispiel in der Westukraine lebten und sie auf ihre vertraute Umgebung angewiesen seien.
Auch ihr Sohn habe oft gefragt, wann es nach Hause geht. Und was eigentlich mit ihrer Katze sei. Auch so eine Geschichte: Das Haustier hatten sie in der Obhut der Nachbarn gelassen, sie wollten ja nicht lange weg sein. Inzwischen ist auch die Katze hier. Bis zur polnischen Grenze konnte Anna den Transport organisieren – von dort hat sie die Katze abgeholt. „Es waren mehr als 2000 Kilometer für die Katze, aber wir haben auch das geschafft“, sagt sie und lacht etwas ungläubig.
Viele bringen sich ein für die Familien
Ivan hätte im März in Kiew an den Augen operiert werden sollen, das müssten sie nun unbedingt organisieren. Der Vierjährige geht nun in den Kindergarten Nikolino der Nikolauspflege. „Wir sind so dankbar“, sagt Anna. Die Hilfe, die sie in Stuttgart erfahren haben, kommt ihr vor „wie ein Wunder“. Das mache es leichter, mit allem fertig zu werden.
Die Vorstandsvorsitzende der Nikolauspflege, Anne Reichmann, weiß noch, wie sie die Nachricht erreichte, dass Busse mit Ukrainern ankämen – ob man helfen könne? Sie beglückt die große Hilfsbereitschaft ebenfalls – egal auf welcher Ebene ihres Trägers und darüber hinaus. Sie ist selbst herumgefahren, um Spenden abzuholen für die vier Familien. Eine Dolmetscherin leiste Unglaubliches. Auch Gudrun Nopper ist sie dankbar, die mit ihrem Verein Stille Not geholfen habe, eine Wohnung für zwei Familien auszustatten, und die selbst Kisten gepackt, geschleppt und Betten bezogen habe.
Die Energie der Frauen sei beeindruckend
Weil nun so viel zu regeln ist, hat die Nikolauspflege einen Mitarbeiter abgestellt, der den Ukrainern zur Seite steht. Martin Scheidt kümmert sich sonst um die Themen Reha und Wohnraumbeschaffung. Nun hat er Bankkonten eröffnet, war bei Ämtern, im Bürgerbüro, bei Ärzten (auch beim Tierarzt) und hat Stuttgart gezeigt. Auch auf dem Frühlingsfest war er mit der ukrainischen Gruppe, um etwas Leichtigkeit ins Leben zu bekommen. „Da habe ich die Kinder zum ersten Mal entspannt gesehen“, sagt Scheidt.
„Das braucht alles seine Zeit“, glaubt Anne Reichmann. Jetzt sei Normalität wichtig. Sie selbst beeindruckt die Gruppe sehr. Vor allem die Frauen, die so selbstbewusst und voller Energie seien, empfindet sie als „sehr inspirierend“.
Bürgerservice unterstützt 30 pflegebedürftige Personen
Stadt
Für pflegebedürftige Menschen aus der Ukraine hat die Stadt Stuttgart zwei Mitarbeitende aus dem Bürgerservice Leben im Alter abgestellt. Bislang werden laut Stadt 30 Geflüchtete aus der Ukraine mit Pflegebedarf und/oder mit Behinderung von der Stelle unterstützt – sie seien zwischen vier und 92 Jahre alt. Für einige seien ambulante Pflegedienste organisiert worden. Werden Hilfsmittel benötigt, sei der MedPoint in der Heilbronner Straße erste Anlaufstelle. Dort könnten Rezepte für Hilfsmittel ausgestellt werden. Fünf pflegebedürftige Flüchtlinge mit „erheblichem Pflegebedarf“ seien laut Stadt in einem Pflegeheim des Eigenbetriebs Leben & Wohnen untergebracht worden.
Träger
Anders als bei der Nikolauspflege sind bei den übrigen Stuttgarter Trägern keine offiziellen Anfragen nach Unterbringung für Menschen mit Behinderung eingegangen, berichten Caritas, BHZ und Lebenshilfe Stuttgart. Letztere hat sogar in einer Wohnung eine geflüchtete Familie mit einem behinderten Kind untergebracht. Der Kontakt sei privat zustande gekommen, nicht über eine offizielle Anfrage, so die Sprecherin, das Kind werde aufgrund des Alters nicht bei ihnen betreut. vv