Stuttgart - Die Straßen-Saison geht an diesem Sonntag mit vier kleineren Rennen in Frankreich und Italien zu Ende, Bilanz gezogen hat Ralph Denk schon vorher. Mit weitreichenden Erkenntnissen. „Der Profiradsport“, sagt der Chef von Bora-hansgrohe, „hat sich massiv verändert.“ Weshalb nun auch beim stärksten deutschen Rennstall ein größerer Umbruch ansteht.
Rückblick. Wer sich die Rundfahrten und Klassiker 2021 anschaut, erkennt ein Muster – das am Ende ein klares Bild ergibt: Der Radsport zeigt ein neues Gesicht. Das Tempo war in vielen Rennen so hoch, dass der französische Star David Gaudu sagt: „Alle fahren schneller. In diesem Jahr habe ich so viele Watt treten müssen wie noch nie. Wer unter die besten zehn wollte, musste ständig die eigenen Rekorde brechen.“ Sein Landsmann Romain Bardet stellte gar die ketzerische Frage, ob er denn in der MotoGP unterwegs sei. Dazu kommen weitere Fakten.
In den Rennen wurde wesentlich früher attackiert, aggressiver und mutiger gefahren. Tadej Pogacar (Tour) und Egan Bernal (Giro) haben bei den großen Rundfahrten auch deshalb triumphiert, weil sie lange Soli riskierten, ohne Unterstützung ihrer Teamkollegen. Zugleich zeigten Pogacar (23), der zudem noch Lüttich–Bastogne–Lüttich und die Lombardei-Rundfahrt gewann, sowie Bernal (24) erneut eindrucksvoll, wie erfolgreich man in jungen Jahren sein kann. Aufgemischt wurde das Peloton ganz nebenbei von Weltklasse-Crossern wie Wout van Aert (27) oder Mathieu van der Poel (26), die nun auch der Straße (nicht nur bei Paris–Roubaix) ihren Stempel aufdrückten. Zugleich hat Ralph Denk eine zunehmende Fokussierung auf ausgewählte Höhepunkte registriert. „Früher hatten Fahrer bis zu 100 Renntage pro Saison“, sagt er, „heute sind es oft nur noch zwischen 60 und 70, dafür bereiten sich die Profis intensiver auf ihre Einsätze vor. Auch das führt zu einem viel höheren Niveau.“
30 Siege – und doch nicht zufrieden
Natürlich muss man sich angesichts dieser Entwicklung die Frage stellen, ob es überhaupt möglich sein kann, das Rad mit legalen Methoden immer noch weiter zu drehen. Die Antwort von Denk ist klar: „Ja, wenn man offen ist für neue Wege.“ Beim Material sieht der Bora-Teamchef, etwa bei der Aerodynamik, noch Spielraum. Und bei der Zusammenstellung seines Rennstalls sowieso.
Es ist keineswegs so, dass die Verantwortlichen in Raubling mit der Saison unzufrieden wären. Richtig zufrieden aber sind sie auch nicht. Es gab zwar 30 Siege, darunter die beiden von Nils Politt bei der Tour de France (Etappensieg) und der Deutschland-Tour (Gesamtsieg). Doch auch viele Pläne, die nicht aufgegangen sind. Allen voran von Ex-Weltmeister Peter Sagan, in den Jahren 2017 bis 2019 der Erfolgsgarant, der 2021 auf großer Bühne nur beim Giro (ein Etappensieg, Punktetrikot) auffiel. „Wir sind selbstkritisch und wissen natürlich, dass wir schon ein Stück näher dran waren am World-Tour-Gesamtsieg“, sagt Denk, der mit seinem Team die Nummer sechs der Welt ist, „Mittelmaß zu sein ist nicht unser Anspruch.“ Deshalb folgt nun die Neuausrichtung.
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Elf Fahrer sind für das Jahr 2022 bereits verpflichtet, darunter der letztjährige Giro-Zweite Jai Hindley (25/Australien), der Giro-Vierte Alexander Vlasov (25/Russland) und Kletterspezialist Sergio Higuita (24/Kolumbien) – was die Qualität und taktische Variabilität des Teams vor allem in den Bergen enorm erhöht. „Wir haben lange an unseren älteren Fahrern festgehalten. Vielleicht hätten auch wir schon früher auf die Jugend setzen sollen, einen mutigeren Schritt gehen müssen“, erklärt Ralph Denk, „da sind wir ein, zwei Jahre hinterher. Aber man lernt eben nie aus im Leben.“ Es ist ein Satz, der auch von Rolf Aldag stammen könnte.
Von Rolf Aldag verspricht sich der Bora-Teamchef viel
Der Ex-Profi fuhr 13 Jahre lang für das Team Telekom (1993 bis 2005), verhalf Bjarne Riis und Jan Ullrich zu ihren Tour-Siegen. Und gab nach seiner Karriere zu, sich regelmäßig mit dem Blutbeschleuniger Epo gedopt zu haben. Später war er Sportlicher Leiter bei etlichen Rennställen, zuletzt bei Bahrain Victorious unter dem umstrittenen Slowenen Milan Erzen. Nun ist Aldag ein wesentlicher Bestandteil des Umbruchs bei Bora-hansgrohe – der 53-Jährige wird neuer Sportchef. „Er hat sich als Funktionär nichts zuschulden kommen lassen und uns in sehr intensiven Gesprächen seine Glaubwürdigkeit gezeigt. Es ist an der Zeit, dass er bei einem deutschen Team eine Chance bekommt“, sagt Denk über Aldag, von dem er sich viel erhofft: „Er hat eine wahnsinnige Expertise, es gibt keinen, der im Radsport vielseitiger aufgestellt ist – als Taktiker, Motivator, Materialexperte. Rolf Aldag ist für uns die optimale Lösung.“
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Eine Garantie, den Sprung an die Weltspitze zu schaffen, gibt es trotzdem nicht. Weil Bora auch nächste Saison keinen Pogacar, keinen Bernal, keinen van Aert und keinen van der Poel im Team hat. „Ein echter Superstar fehlt uns“, sagt Denk, „dafür haben wir eine sehr gute Breite, aus der wir nun etwas entwickeln müssen.“ Um von der Veränderung nicht abgehängt zu werden.