Für ein ganzes Jahr rumpeln Güterzüge quer durch Stuttgart, die lauter sind als Personenzüge.
Stuttgart - Die Ausnahme liest sich so: „Bei mir sind noch keine Beschwerden angekommen.“ Mit diesem Satz ist Rupert Kellermann einsam, der Bezirksvorsteher im Stuttgarter Süden. Außer in seinem Büro klingeln quer durch Stuttgart, vom Südzipfel in Rohr bis zum äußersten Norden in Zuffenhausen, die Telefone bei Bezirksvorstehern, Bürgervereinen, Kommunalpolitikern. Die Anrufer sind Lärmgeplagte, die auf die Bahn schimpfen.
Nicht zum ersten Mal. Seit vergangenem Montag leitet das Unternehmen Güterzüge über die historische Gäubahntrasse, die sich quer durch den Talkessel schlängelt. Das hatte die Bahn schon in der Vergangenheit getan, mal tage-, mal wochenweise, im Jahr 2008 sechs Monate lang. Damals gründeten sich sogar Bürgerinitiativen, um zu protestieren, in Vaihingen oder auch in Leonberg nicht nur gegen den Lärm, auch gegen Risse in Eigenheimen, deren Besitzer argwöhnten, die Erschütterungen des Güterverkehrs hätten die Schäden verursacht.
Diesmal müssen sich alle, die nahe der Trasse leben, auf ein ganzes Jahr des unruhigen Schlafes einstellen. Die Umleitungszeit endet erst im Dezember 2012. Die Güterzüge fahren die ganze Nacht. Und sie sind lauter als die Bahnen, die Menschen transportieren. Wie viel lauter, beschreibt Reinhard Möhrle so: „Teilweise fahren die mit uraltem Wagenmaterial, wenn die bremsen, ist das ein Riesenspektakel“. Möhrle ist Bezirksvorsteher im Westen. In seiner Wohnung hört er ansonsten keinen Zug, von den Güterzügen jeden. Weil die Gleise den Bezirk umkurven, „ist das im ganzen Westen so“, sagt Möhrle und erwartet „wieder heftige Beschwerden“.
Die Geräuschkulisse sollte längst Vergangenheit sein
Die hörte sich auch seine Kollegin im Norden, Andrea Krueger, schon in der Vergangenheit an. Am Nordbahnhof verläuft die Trasse erhöht, etwa auf Höhe des zweiten Stockwerks, teilweise so nah an Häusern entlang, dass deren Bewohner mit Kirschkernen die Züge bespucken könnten. Drei Hutzelhäuschen, Kuriositäten vergangener Tage, sind gar in die Bögen der Bahnbrücke hineingebaut. Der Zugbetrieb „ist im Normalfall unproblematisch“, sagt Krueger, aber „die Güterzüge bremsen sich sozusagen in den Nordbahnhof hinein“.
Diese Geräuschkulisse sollte eigentlich schon seit zehn Jahren zerbröckelt sein. Grund für die Umleitung der Güterzüge ist der Bau neuer Gleise für die Linie S 60 zwischen Böblingen und Renningen. Auf der Trasse sollten schon 2002 Bahnen fahren. So hatte es 1999 der damalige Verkehrsminister Ulrich Müller angekündigt. Außerdem hatte Müller für die 15 Kilometer lange Strecke Kosten von rund 32 Millionen Euro angesetzt.
Letztlich begann der Bau am 30. Juni 2004. Der erste Spatenstich war eine der letzten Amtshandlungen Müllers, bevor Stefan Mappus ihn als Verkehrsminister ablöste. Die Jungfernfahrt war nach zwei Jahren Bauzeit angekündigt. Stattdessen verschob sie sich wegen Pleiten, Streit und Pannen im Zweijahres-Rhythmus. Der aktuell angepeilte Termin ist Ende 2012. Die Kosten haben sich seit Müllers Ankündigung knapp verfünffacht. Derzeit ist der Trassenbau mit rund 150 Millionen Euro veranschlagt.
Auf Erfolg von Beschwerden darf niemand hoffen
Dass die Beschwerden über den neuerlichen Lärm zumindest eine Senkung des Schallpegels bewirken, darf niemand hoffen. Nicht, dass es am guten Willen in den Rathäusern der Stadt mangeln würde. Schon in der Vergangenheit verabschiedeten Bezirksbeiräte Protestnoten, die Freien Wähler im Gemeinderat beantragten einen Bericht für Stuttgarts Norden, die Sozialdemokraten forderten Geschwindigkeitsbegrenzungen und den Einsatz moderner Waggons für den Süden.
Die Erfahrungen daraus ermutigen nicht gerade zu neuerlichen Initiativen. „Ich hätte mir gewünscht, dass die Bahn sich bemüht hätte, etwas zu tun“, sagt die SPD-Fraktionsvorsitzende Roswitha Blind, „oder wenigstens verbindlich begründet, warum sie nichts tun kann“. Stattdessen lautete die sich wiederholende Erklärung: Der Betrieb ist genehmigt, auch für den Güterverkehr. Anders ausgedrückt: „Die geben uns nicht mal eine Auskunft.“ So beschreibt Möhrle seine Erfahrungen mit Anfragen bei der Bahn.
Formal ist das Unternehmen im Recht. Eine einmal genehmigte Trasse muss nur nachgebessert werden, wenn sie neu gebaut oder erheblich verändert wird oder wenn die Zahl der Züge auf ihr erheblich steigt. Unerheblich sind Veränderungen links und rechts der Trasse. Der letzte Abschnitt der Gäubahn, seinerzeit der Stolz der Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen, wurde im Jahr 1879 eingeweiht. Der Bau der 150 Kilometer langen Trasse zwischen Stuttgart und Hattingen dauerte damals 13 Jahre. Die gleiche Zeit wird zwischen Müllers Ankündigung und der Jungfernfahrt der S 60 vergangen sein. Sofern die Verlegung der 15 Kilometer Gleise sich nicht neuerlich verzögert.