Eine neue europäische Ozeankommission soll den Schutz dieser Ökosysteme voranbringen. Der Zustand der Meere ist schlechter als bekannt.  

Lübeck - Ozean auf der Erde zu sein ist hart: Müllschlucker, Rohstofflieferant, Klimamacher, Lebensraum und Friedhof. Allen Aufgaben sollen Ozeane gerecht werden. Doch andererseits ist die Mängelliste lang: zu warm, zu schmutzig, zu viele tote Fische. Als Arbeitnehmer wären Ozeane arbeitsunfähig - Diagnose Burn-out. Doch wer schreibt Ozeane krank, schickt sie zur Kur und verhindert so den drohenden Kollaps des weltgrößten und wichtigsten Ökosystems?

 

"Der Zustand unserer Ozeane ist viel schlechter als vermutet", sagt Dieter Feddersen, Vorstandsmitglied der Dräger-Stiftung in Lübeck. "Es wird endlich Zeit, dass die Öffentlichkeit das erfährt und wahrnimmt." Auch deshalb hat die Stiftung jetzt zum Start der Konferenzserie "Nachhaltigkeit der Ozeane" nach Hamburg eingeladen. Rund 70 Meeresforscher und Juristen aus aller Welt diskutierten in der dortigen Bucerius Law School über den Wert der Ozeane. Dabei kommentierte Karin Lochte, die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, die Situation mit drastischen Worten: "Wir verschenken das Tafelsilber der Meere, noch bevor wir es richtig kennen."

"The area" gehört jedem und keinem

Angesichts der immer schlechter werdenden Situation fordert Feddersen: "Wir brauchen ein koordiniertes, umfassendes und transparentes Offshoremanagement, das effektive Maßnahmen durchsetzen darf." Denn die Weltmeere haben noch ein anderes Problem, und das trägt einen unscheinbaren Namen: "the area", auf Deutsch: das Gebiet. Das "Gebiet" beginnt, wo die Hoheitsrechte der Küstenstaaten aufhören. Es gehört, ähnlich wie das Internet, jedem und keinem. Und genau dieser rechtsfreie Raum bildet den Nährboden vieler Umweltkatastrophen.

In diesem Gebiet gibt es keine international bindenden Gesetze. Einen solchen Gebietsschutz bräuchte es aber, um Umweltrisiken einzudämmen, wie sie zum Beispiel bei der Erdölförderung entstehen - und die bisher viel zu wenig berücksichtigt wurden. Doch selbst so verheerende Unglücke wie die Havarie der Ölplattform Deep Water Horizon vor der Südküste der USA haben bisher zu keinem Umdenken geführt: So machte etwa Quenton Dokken, der Vorstand der Golf-von-Mexiko-Stiftung, auf der Hamburger Konferenz aus seiner Meinung keinen Hehl, dass alle Beteiligten aus der Katastrophe nichts dazugelernt hätten.

Erdöl- und Erdgasförderung sind ein großes Risiko

Die Ozeane bedecken 70 Prozent der Erdoberfläche, beheimaten mehr als die Hälfte allen biologischen Lebens und sind Hüter über immense Energie- und Rohstoffvorkommen. Von einem Totalzusammenbruch des ozeanischen Ökosystems wäre die ganze Menschheit betroffen. "Unser Energiehunger, sei es zu Land oder zu Wasser, ist unersättlich. Und die Energiereserven, die in unseren Ozeanen schlummern, wecken den Appetit von vielen", sagt Feddersen. Für die Ölfirmen bedeute die Erdöl- und Erdgasförderung das große Geld, für die Ozeane jedoch ein hohes Risiko. Dieses Risiko erhöht sich, weil eine übergeordnete Kontrollinstanz mit klaren Vorgaben und strengen Gesetzen fehlt.

Ein Abzug der Energiekonzerne ist zurzeit undenkbar. Die American Joint Ocean Commission zeigte 2008 auf, wie wichtig das Investment der Energiekonzerne für die amerikanische Wirtschaft ist. Von der Ausbeutung der Ozeane direkt oder indirekt abhängige Industrien erwirtschafteten jährlich rund 140 Billionen US-Dollar für die US-Wirtschaft, das sind 2,5-mal mehr als die Agrarindustrie. 30 Prozent des Ölbedarfs hatten die USA 2008 offshore gefördert. Was also tun, wenn Menschen ohne die Energiereserven der Ozeane nicht lebensfähig erscheinen?

Dramatische Zahlen

Erst kürzlich veröffentlichten Meeresforscher der IPSO (International Programme on the State of the Ocean) und IUCN (International Union for Conservation of Nature) ihre dramatischen Ergebnisse. Demnach ist die Verschmutzung der Weltmeere stärker als bekannt, die Wassertemperaturen steigen, den Korallenriffen droht ein Massensterben, und die Überfischung ist gravierend. "Die Fischbestände in den Küstengewässern Englands und Wales verringerten sich während der letzten 120 Jahre um 94 Prozent", sagt Feddersen und verweist auf den World Ocean Review 2010 des Leibniz-Institut für Meereswissenschaften an der Uni Kiel, Ifm-Geomar.

Als ein erster Schritt zu mehr Regulation wurde am Ende der Konferenz die Gründung einer Europäischen Ozeankommission mit Sitz in Hamburg angeregt. Eine enge Zusammenarbeit mit der bereits bestehenden amerikanischen Ozeankommission wird angestrebt. Mittelfristig soll ein gemeinsames amerikanisch-europäischer Bericht, ein sogenanntes White Paper, entstehen, in dem dann regelmäßig alle relevanten Forschungsergebnisse so aufbereitet werden, dass sie jeder versteht - auch die verantwortlichen Politiker, denn die sollen anschließend die nötigen Gesetze zum Schutz der Ozeane erlassen. Ob das Vorhaben gelingt, wird sich spätestens im nächsten Jahr zeigen. Dann nämlich wollen sich die Konferenzteilnehmer in New York treffen - und ein Jahr später in Lissabon.