Schrill, knallbunt und laut: So kennen wir den Eurovision Song Contest. Aber welche Chancen hat der stille Roman Lob in dem ganzen Spektabel? Erhard Stern berichtet von seinen Erlebnissen rund um den ESC.

Baku - Die Residenz des deutschen Botschafters liegt in einem der nobleren Viertel von Baku, umgeben von hohen Mauern und Zäunen. Für Botschafter Herbert Quelle ist der Tag eine angenehme Abwechslung vom Diplomatenalltag. Später wird er sagen, wie sehr er sich über den Besuch der deutschen Delegation des Eurovision Song Contests (ESC) freue. „So oft haben wir ja nicht unseren Star für Baku zu Gast.“ Mit anderen Worten: Endlich einmal Leben in der Bude.

 

Also alles gut? Nicht ganz. Der Star für Baku, Roman Lob, lässt auf sich warten. Er hat bereits anstrengende Tage hinter sich – und einen aufregenden Auftritt vor sich. Da gilt es, jede Minute zum Entspannen zu nutzen.

Roman Lob ist so etwas wie der Gegenentwurf der meisten seiner Konkurrenten. Zurückhaltend, still, fast schüchtern wirkt er, wenn er nicht singt. Und selbst auf der Bühne entfachen die zwischen 43 und 76 Jahren Buranowskije Babuschki aus Russland mit ihrem „Party for everybody“ mehr Feuer als der 21-Jährige aus dem Westerwald. Textlich liegen die Omis von der Wolga ebenso im Trend wie Nina Zilli aus Italien („L'amore è femmina“, Die Liebe ist weiblich): boom, boom, boom, lalala, lala. Dritte im Bunde der angeblichen Favoriten ist die 28 Jahre alte schwedisch-marokkanische Sängerin Loreen („Euphoria“). Aber Schweden gehört seit Abba-Zeiten ohnehin jedes Jahr zu den Favoriten. Wohl auch deshalb stammen 16 der 42 ESC-Songs aus der Feder schwedischer Komponisten.

Bei einem Misserfolg sollte das Team die Song-Wahl überdenken

Überhaupt bieten die weitaus meisten Finalisten eine weitaus spektakulärere Show als Deutschland. Das muss aber noch nichts heißen. Auch wer sich in der Kristallhalle von der ESC-Standardware abhebt, hat durchaus seine Chancen. Eine Platzierung unter den ersten Zehn hält der Mann hinter Roman Lob, „Unser Star für Baku“-Präsident Thomas D deshalb nach wie vor für machbar.

Doch seinem Schützling fehlt eine Rückmeldung aus dem Halbfinale. Der Beifall nach den Proben kann dabei kaum als Maßstab dienen. Denn die Halle ist fest in deutscher Hand: Techniker der TV-Produktionsfirma „Brainpool“ aus Köln sind wie bereits im vergangenen Jahr in Düsseldorf auch in Aserbaidschan für Bild und Ton verantwortlich. Und so gilt auch in diesem Fall: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Oder wie es aus der deutschen Delegation unisono heißt: Nichts ist vorhersehbar, letztlich entscheiden die Jury und die Fernsehzuschauer.

Wenn es nichts wird mit dem Sieg oder einer guten Platzierung, dann sollte sich das Team einmal Gedanken darüber machen, ob es eine gute Idee war, mit einem Lied anzutreten, das so gut wie gar keine Möglichkeiten bietet, sich auf der Bühne zu präsentieren: „Standing still“.

Deutschland nimmt den ESC nach wie vor nicht ernst

Wie man sich mit einer missglückten Show aller Chancen berauben kann, musste schon die 22 Jahre alte Niederländerin Joan Franka im Halbfinale erfahren. Jede Wette: Bei einer Radioübertragung hätte sie mit ihrem wunderbaren Folksong „You and me“ locker den Sprung ins Finale geschafft. Warum sie aber mit einem deplatziert wirkenden Indianer-Kopfschmuck auf die Bühne musste, hat kaum ein Zuschauer verstanden. Sie selbst vermutlich auch nicht.

Lenas Erfolg zum Trotz nimmt Deutschland den Eurovision Song Contest nach wie vor nicht ernst. Was ist es, wenn nicht maßlose Arroganz, wenn Thomas D vor den Halbfinals sagt, er müsse nicht alle 42 Lieder kennen?!

Vor allem osteuropäische Länder sehen in dem Wettbewerb dagegen eine Chance, sich vor 120 Millionen Fernsehzuschauern zu präsentieren und schicken Profis zum ESC: Für Mazedonien beispielsweise tritt mit der 45-jährigen Kaliopi („Crno i belo“, Schwarz und weiß) eine Sängerin mit fast 30 Jahren Bühnenerfahrung an. In Baku bekommt sie ihre zweite Chance, beim ESC doch noch zu glänzen. Oder Großbritannien! Man mag Engelbert Humperdinck belächeln. Er hört nicht mehr so gut und tut sich schwer beim Treppensteigen. Aber der 76-Jährige wird heute als Erster auf die Bühne gehen und ganz sicher wissen, was er dort tut, wenn er sein „Love will set you free“ schmettert.

Das er auf diese Bühne treten würde, hat Roman Lob vermutlich nicht einmal in Ansätzen geahnt, als er sich bei „Unser Star für Baku“ bewarb. Jetzt ist er in der Hauptstadt Aserbaidschans angekommen und präsentiert unmittelbar vor dem großen Finale mit dem Botschafter am Keyboard seinen ESC-Song. Und eigentlich muss ihm auch vor Samstagabend nicht bange sein. Er ist nett, süß und knuddelig: Die großen und kleinen Mädchen Europas werden ganz sicher für das deutsche Bärchen mit den Bambi-Augen anrufen. Letzter wird er gewiss nicht!