Uraufführung an der Stuttgarter Oper Reigen unseliger Geister

Die liebe Familie als überlebensgroße Drohkulisse: Dora (Josefin Feiler, unten) mit den Projektionen von Mutter (Maria Theresa Ullrich) und Vater (Stephan Bootz). Foto: Martin Sigmund

Die Erfindung des Teufels durch eine manisch-gelangweilte junge Frau – die Uraufführung von Bernhard Langs und Frank Witzels „Dora“ an der Stuttgarter Oper ist ein Coup.

Liebe? Sex? Taugt nur für ältere Leute. Mama und Papa, die mal kurz einen Quickie an die Wand lehnen. Für Dora ist das nichts. Langweilig wie alles – das öde Leben, die verödete Landschaft, die verblödete Familie. Mit manischem Hass will sie raus aus dieser verdammten Welt. Also beschwört sie einen Gesellen, den es gar nicht mehr gibt: den Teufel. Als er erscheint, erkennt sie ihn nicht. Kein Wunder: Der Teufel ist ein Oldschool-Dialektiker, verkörperte Antithese, der das Gegenüber abhanden kam, ein philosofaselnder Schwätzer. So einer holt keine Dora. Dem kann sie nicht ihre Seele verkaufen. Selbst wenn sie eine hätte.

 

25, 500 oder 2500 Jahre alt

Dora ist eine Kopfgeburt des Autors Frank Witzel: Mitte 20, aber auch 500 oder 2500 Jahre alt; kein Ich, sondern transhistorischer Transitraum. Sie lebt im Jetzt, aber ein antiker Chor gemahnt ans Schicksal, das sie nicht mehr hat. In ihr hallen Mythen, Märchen, Literatur nach, von denen sie keine Ahnung hat. Dora ist einerseits Deutschlehrerphantasie, dass sämtliche Bildungskanon-Kanonen die Spatzenhirne der stets ignoranten Gegenwartsrotzlöffelgeneration dank unterschwelliger kulturgenetischer Zielvorrichtungen treffen mögen.

Wiedergänger in der Partitur

Andererseits bleibt Witzels Libretto für die Uraufführung an der Stuttgarter Oper nicht in der Konservatorenfalle stecken, Alles Gejammer über Kultur- und Weiß-der-Teufel-welchen-Verfall wendet es frech gegen sich selbst: Seine Dora ist selbstbewusst ohne Selbst, eigensinnig ohne Ich, rebellisch ohne Perspektive. So sondiert Witzel die postmoderne Soziokultur, in der Lebende und Revenants schamlos identisch sind. Wozu Bernhard Langs Musik passt wie Faust auf Gretchen. Die Zitat-Wiedergänger in der Partitur – Wagner, Verdi, Strauss, Gounod, Pink Floyd – sind nicht nur tradierte Rollenangebote, sondern spucken die ganz großen Töne in eine Welt, die sie nicht mehr versteht. Was ihnen zusammen mit den kompositorischen Verfremdungsmaßnahmen – Hamsterrad-Repetitionen, mikrotonale Schmierspuren, Synthesizerverfärbungen – eine ungeniert obszöne Wirkung zwischen exhibitionistischer Lust und Abgrund verleiht: gleich im ersten Akt der Tonika-Gegenklang-Akkordfolge aus der Nornenszene der „Götterdämmerung“, gefolgt vom „Elektra“-Verweis auf mörderische Familienbande; mythische Übergröße also fürs klamme Prekariat von Doras Sippe, in Elisabeth Stöpplers Regie eine karaoketaugliche Truppe von Schlagersternchenkopien. Da stemmt der nervös zuckende Kampfsportsohn (Dominic Große) originalen Siegfried-Ton, während Papa Lockenwicklerkopf (Stephan Bootz) den abgebauten Helden der Arbeit und Mama (Maria Theresa Ullrich) die Drama- und Trash-Queen macht.

Identitäten sind in Stöpplers sehr kluger, sehr theatralischer Inszenierung so löchrig wie vom Text vorgegeben. Dora wechselt vom blonden Historien-Gretchen ins Heute und zurück zum Pumphosen-Faust. Dem naturgemäß der Teufel als Gründgens-Mephisto pariert, nachdem er zuvor als Chefarzt bei der zwangspsychiatrisierten Dora aufgekreuzt ward.

Valentin Köhler schuf die trefflichen Kostüme und das Bühnenbild-Gerüst als Schauplatz überlebensgroßer Droh- und filmkitschiger Sehnsuchtsprojektionen – eindrucksvolle Video-Performances von Vincent Stefan. Die Sehnsucht steckt im Kopf Bertholds, des Romantikers im Landratsamt, in dessen Bürokratenseele stets ein Schubert-Lied schläft und vom Sänger Elliott Carlton Hines wunderschön wachgeküsst wird. Es gilt Bertholds verhohlener Liebe zu Dora, die ihm der Teufel madig macht. Was den Verwaltungsmann in einen Suizidversuch treibt – nebst einem kleinen Korruptionsskandal, dessen Ertrag Doras Clan in eine neureiche Warenwelt mit Glitter, Klunker und Pelzbesatz katapultiert. Während sich Dora selbst bis auf weiße Shorts entkleidet – ein Akt der Solidarität mit Berthold, der die Hosen herunterlassen musste.

Melodramatische Gegenwelt

Diese melodramatische Gegenwelt erkennt Stöppler als Riss in der strukturellen Ausweglosigkeit, die sie als Sprachgitter inszeniert: Sein und Zeit reduziert auf Worte, Worte auf aufdringlich leuchtende Buchstaben. Aus denen sich aber das Codewort „sondern“ bildet: Wortbrücke zum unaussprechlichen Anderen, Silben, die der schwerbehinderte Berthold wie ein aus dem Rollstuhl auferstandener Prophet stammelt. Und vielleicht ist dieses ersehnte Andere denn doch: die Liebe. Am Ende sitzt Dora schweigend neben Berthold. Sie blicken sich an. Zuvor hatte Langs Musik den Schluss der „Götterdämmerung“ bemüht mit jenem Motiv, das bei Wagner nicht Weltuntergang, sondern Geburt von Neuem bedeutet. Mutterglück – Doras gute Hoffnung? Maria mit dem Kinde stand ja auch kurz vorher da, auf der Bühne.

Vom Ur- zum Endknall

Doch Langs Musikwelttheater vom Ur- bis zum Endknall widerspricht Fluchten und Ausflüchten. Zuständig für die Big Bangs sind drei Schlagzeuger mit Percussion-Prolog im Himmel und -Epilog in der Hölle – oder umgekehrt, denn Kreation und Katastrophe gehen loopartig ineinander über. Doch Dora entzieht sich ins Einsam-Zweisame, ins Private. Sondern? Absondern! Ironie? Wahrscheinlich. Oder eine sanfte Subversion der Regisseurin an Text und Doktrin.

Sensationelle Regie, phänomenale Musik

Jedenfalls eine sensationelle Inszenierung, die das sinnliche, intellektuelle, komödiantische Potenzial dieses Reigens unseliger Geister zu kritischer Sichtbarkeit erhebt. Ebenso präzis wetzt Dirigentin Elena Schwarz Kanten und Konturen von Langs unwiderstehlich verfänglichen Motorik-Maschen, lässt mit dem kammermusikalisch besetzten Staatsorchester aber auch Farben und Phrasierungen leuchten und leben. Sängerisch ist alles samt der Neuen Vocalsolisten in den Chorparts exzellent. Was aber Josefin Feiler als Dora und Marcel Beekman als Teufel gelingt, ist phänomenal. Feiler verbindet Sprechgesang, Sopranspitzen und zitierte Pathosformeln in bruchloser Stringenz und superb nuanciertem Klang. Und wie Beekman das teuflisch schnelle Buffo-Parlando ins quengelnd-quäkende Nervensägenregister hinauftreibt, ist höllenheiße Tenorakrobatik – und fulminante Comedy dazu. Diese Uraufführung ist ein Coup.

Text, Musik, Termine

Librettist
 Frank Witzel, 1955 in Wiesbaden geboren, schrieb Lyrik, Prosa und Hörspiele. „Dora“ ist sein erstes Libretto. Für seinen Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ erhielt er 2015 den deutschen Buchpreis.

Komponist
 Bernhard Lang, Jahrgang 1957, stammt aus Linz. Sein Stil ist sein den 90er-Jahren geprägt durch die Wiederholung im doppelten Sinn: einerseits rhythmisch-motorische Texturen, die zu Wiederholungsschleifen verwoben werden. Andererseits das „Recycling“ vorhandener Musik.

Vorstellungen
 8., 15. und 22. März, 1. und 4. April im Stuttgarter Opernhaus.

Weitere Themen

Weitere Artikel zu Oper Stuttgart