Hannah Hofmann und Sven Lindholm experimentieren im Nord in der „Uraufführung“ an Goethes Faust II.

Stuttgart - Sven Lindholm steht in einem düsteren Vorraum der Spielstätte Nord vor seinem Publikum und erklärt, dass er 1968 nach siebzehn Stunden Steißlage geboren worden sei, wenn man den Worten seiner Mutter glauben dürfe. Und damit ist er beim Thema seiner neuen Theaterproduktion. Menschen erzählen Geschichten, die als Realität gelten, mögen sie nun stimmen oder nicht. Doch es gibt die gewaltige Macht der Erzählung. Und deshalb präsentieren Hannah Hofmann und Sven Lindholm mit ihrer neuen Produktion ein Stück, das es, so erklären die beiden dem Publikum, überhaupt nicht gebe. Das eigentliche Stück müssten die Zuschauer selbst erschaffen, indem sie anderen Menschen von dem Nicht-Stück, das gleich stattfinde, erzählten. Darum bitten Hofmann und Lindholm inständig, mit wunderbar komischem Nachdruck.

 

Anfangs herrscht reichlich Verwirrung

Was soll diese komplizierte Konstruktion? Hofmann und Lindholm (Text und Regie) haben sich eine geheimnisvolle Passage aus dem zweiten Teil von Goethes „Faust“ vorgenommen. Um Helena und Paris für den Kaiser wenigstens fiktiv herbeizuzaubern, steigt Faust mit Unbehagen zu den „Müttern“, Göttinnen, hinab, um einige Verse später wieder heraufzuklettern. Die Phase dazwischen bleibt völlig offen, ohne Zeit und Ort. Hofmann und Lindholm füllen das Goethe‘sche Vakuum mit ihrer Produktion „Uraufführung“, die natürlich ein Stück und kein Nicht-Stück ist. Die Idee vom Stück, das erst vom Publikum nach der Theatervorstellung durch Nacherzählung erschaffen wird, ist anregend, aber so richtig überzeugt sie nicht.

Was aber Hofmann und Lindholm zu Goethes Mütter-Leerstelle eingefallen ist, besticht. In einem leeren, schwarzen Raum ohne jegliche Requisiten, auch er buchstäblich eine Leerstelle wie im „Faust“, steht eine Tribüne mit Sitzen für rund fünfzehn Zuschauer, der Rest hockt auf Bänken am Rand. Eine Art Stationentheater hebt nun an, durchnummeriert bis 16, die Themen werden auf eine Wand projiziert, bisweilen wundervoll formuliert: „Nr. 7. Faust in gieriger Landschaft.“ Nr. 3 lautet: „Kritiker wird auf der Bühne in Vollnarkose versetzt.“ Dazu wird ein Krankenbett in den Raum gerollt, in das sich keine Bühnenfigur legt, sondern der real existierende Kritiker und Autor unserer Zeitung, Thomas Morawitzky, um nun von dem veritablen Stuttgarter Anästhesisten Ralf-Kersten Weber in Vollnarkose versetzt zu werden. Das Publikum tritt staunend heran.

Das Publikum ist buchstäblich bewegt

Überhaupt: Die Performance von Hannah Hofmann und Sven Lindholm bringt die Zuschauer im Nord mächtig in Bewegung, wie auf einer Piazza kreuzen sich die Wege der Zuschauer. Jene Zuschauertribüne wird auf der Bühne alle paar Minuten verschoben, und auch die Zuschauer wechseln laufend ihren Standort, denn sie werden mit einem Panoptikum diverser Bildideen konfrontiert. Die Performer Lara Pietjou und Robert Christott sowie Roland Görschen als Erzähler führen durch das faustisch inspirierte Programm, das mit Szenen aufwartet, die leider nicht immer verständlich, aber stets sehr konkret und sinnlich geraten sind.

Da ritzen sich etwa Spieler à la Faust und Mephisto, und ihr (Theater-)Blut wird mittels einer Wurstmaschine sogleich zu Blutwurst verarbeitet. Humor ist eine Qualität dieser Performance. Goethe wird locker angetippt und ironisch verwurstet. Zu erleben ist eine eher spielerische Annäherung an ein Haupt- und Riesenwerk der deutschen Literatur, und das macht den Abend sympathisch.

Das Publikum sei Faust, wird in dieser Performance behauptet. So wie Faust in der Gretchentragödie Befriedigungskitzel erlebt, den ihm Mephisto zu verschaffen versucht, wird man als Herumschlendernder im Nord in irgendeiner Bühnenecke immer wieder mit neuen Seltsamkeiten konfrontiert. Suggestive Musik unterfüttert eine traumähnliche Stimmung. Zu erleben ist eine manchmal rätselhafte, aufregende und richtig unterhaltsame „Faust“-Annäherung. Langer Applaus.