Gähnen ist tatsächlich ansteckend. Und damit ein Zeichen von Empathie. Autisten lässt das Alltagsphänomen nachweislich kalt.

Stuttgart - Jeder Mensch gähnt, mehrmals am Tag. Besonders häufig überkommt es uns nach dem Aufwachen und vor dem Schlafengehen. Wir gähnen bei Hunger, aber auch nach dem Essen, bei Müdigkeit wie bei Stress. Und nicht nur der Mensch gähnt. Nahezu alle Wirbeltiere tun es. Aber selbst nach Jahrzehnten Forschung ist völlig unklar, was der Grund für das seltsame Verhalten ist. Fest steht: Gähnen ist ansteckend. Frauen und Männer, junge und alte Menschen tun es gleichermaßen. Und bereits der Fötus im Mutterleib gähnt. Obwohl das tiefe Einatmen bei weit geöffnetem Mund in allen Kulturen zu finden ist, weiß man bis heute wenig über seine Hintergründe.

Die Wissenschaft vom Gähnen, auch Chasmologie genannt, liefert einige unterschiedliche Erklärungsansätze. Experten unterscheiden zwischen dem spontanen Gähnen, das uns aus dem Nichts heraus oder bei Müdigkeit überfällt, und dem sozialen Gähnen. Dieses überkommt uns, wenn wir andere Personen dabei beobachten. Die Hälfte aller Menschen folgt diesem Verhalten innerhalb von fünf Minuten, und sie reagieren nicht nur auf den visuellen Reiz: Es genügt, das typische Geräusch zu hören. Selbst das wiederholte Lesen des Wortes, ja sogar der Gedanke an das Gähnen macht uns anfällig. Jeder zweite Leser dieses Artikels wird in den kommenden Minuten garantiert gähnen.

Gähnen hat nichts mit Müdigkeit zu tun


Der populäre Mythos, dass Gähnen mit Müdigkeit oder Sauerstoffmangel zu tun habe, wurde bereist 1987 vom Neuropsychologen Robert R. Provine widerlegt. In Experimenten mit Luft und reinem Sauerstoff hat er nachgewiesen, dass die Zusammensetzung der eingeatmeten Substanz keinerlei Einfluss auf die Gähnrate der Probanden hatte. Der Glaube, dass wir durch Gähnen zusätzlich Sauerstoff inhalieren wollen, ist also nicht haltbar. Eine andere Theorie vertreten Andrew und Gordon Gallup von der New York State University. Sie vertreten die These, dass Gähnen eine Wärmeaustauschfunktion besitzt. Durch das Einatmen von kühler Luft beim Gähnen werde der Temperaturhaushalt im Gehirn reguliert und somit die Bedingungen für optimale Leistung und erhöhte Aufnahmefähigkeit geschaffen. Doch Tests zeigen, dass die Temperatur im Gehirn konstant bleibt, ganz gleich ob man gähnt oder nicht.

Forscher wie der Schweizer Adrian Guggisberg glauben dagegen, dass es ein rein sozialer Akt ohne physiologischen Grund ist, ein Akt nonverbaler Kommunikation. "Auch soziale Funktionen können so wichtig sein, dass sie im Laufe der Evolution Bestand haben", so Guggisberg. Aus dem Tierreich gibt es dafür zahlreiche Hinweise. Löwen etwa gähnen kurz vor dem Aufbruch zur gemeinsamen Jagd und Schimpansen stecken sich ebenso wie der Mensch untereinander beim Gähnen an. Ähnliches bringt sonst nur das am stärksten auf den Mensch ausgerichtete Tier fertig, der Hund. Dieser ist zwar immun gegen das Gähnen seiner Artgenossen. Gähnt jedoch sein Besitzer, lässt er sich in 72 Prozent aller Fälle anstecken.

Wichtig für das Sozialverhalten


Innerhalb des Sozialverhaltens hat Gähnen eine wichtige Funktion. Notwendige Bedingung für das Nachahmungsverhalten ist, dass die beteiligten Gruppenmitglieder zur Empathie fähig sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei erhöhtem Serotonin-, Dopamin- oder Glutaminsäurespiegel im Gehirn die Gähnfrequenz steigt. Diese Botenstoffe sind für Emotionen und auch das Einfühlungsvermögen wichtig.

Einfühlsame Menschen gelten als prädestiniert, soziale Mitgähner zu sein. Gestützt wird diese These durch Beobachtungen des Neurologen Atushi Senju vom Birkbeck College in London. Sie stellten fest, dass sich autistische Kinder - im Gegensatz zu anderen Schulkameraden - vom Gähnen nicht anstecken lassen. Auch Schizophrene scheinen immun. Wie sehr Gähnen sozial geprägt ist zeigt auch, dass sich Kinder erst im Alter von vier bis fünf Jahren anstecken lassen. Erst dann sind Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen ausreichend entwickelt.

Entwickelt sich Empathie mit den Jahren?


Eine weitere Studie aus den USA, die jetzt im Fachjournal "Child Development"veröffentlicht wurde, unterstützt diese Annahme. Demnach gibt es einen Zusammenhang zwischen ansteckendem Gähnen und der Entwicklung sozialer Fähigkeiten. "Vorausgesetzt, ansteckendes Gähnen ist ein Zeichen von Empathie, legt diese Studie nahe, dass sich Empathie - und die Nachahmung, die ihr zugrunde liegen könnte - langsam über die ersten Lebensjahre hinweg entwickeln", schreiben Deborah A. Fein und ihre Kollegen. Sie glauben auch, dass autistische Kinder dezente Verhaltensmuster - und damit auch Hinweise - ihrer Umgebung verpassen, die sie dann emotional an andere binden würden.

Die Studie könnte damit auch eine Orientierungshilfe für Ansätze darstellen, mit autistischen Kindern so zu arbeiten, dass auf solche Hinweise speziell geachtet wird. Emotionale Ansteckung und das damit verbundene Nachahmen erlaubt es womöglich, sich bei sozialer Interaktion intuitiv in die Gefühle anderer zu versetzen. Die Fähigkeit, sich in Bezug auf Emotionen anstecken zu lassen, bietet Psychologen eine Möglichkeit, die Ursprünge automatischer sozialer Verhaltensweisen zu studieren, die möglicherweise die Grundlagen für die Entwicklung von Empathie legen.