Sport ist nicht Mord, aber er verkürzt die Lebenserwartung mitunter um 15 Jahre. Fakt ist: Im Profisport wird oft fahrlässig mit Gehirnerschütterungen umgegangen. In verschiedenen Sportarten wird darüber heftig diskutiert – und inzwischen auch gezahlt.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Christoph Kramer hatte da noch eine Frage. Er stand auf dem Rasen des Maracanã-Stadions in Rio de Janeiro, es war der 14. Juli, der Abend, an dem Deutschland Fußball-Weltmeister wurde. Christoph Kramer war sich nicht sicher, weswegen er lieber den Referee Nicola Rizzoli fragte: „Schiri, ist das das Finale?“

 

Der Nationalspieler war in der 17. Minute mit Ezequiel Garay zusammengeprallt. Mit voller Wucht war sein Kopf gegen die Schulter des Argentiniers gekracht, Kramer sank zu Boden. Sichtlich benommen wurde er vom Feld geführt – und kurz darauf von den Betreuern zurück geschickt. Einige Minuten später stellt er diese Frage, der Schiedsrichter weist Bastian Schweinsteiger auf den Zustand seines Mitspielers hin. Kramer wird ausgewechselt.

Christoph Kramer hat Glück gehabt

Einige Tage später sagt Christoph Kramer: „Ich habe mich komplett medizinisch durchchecken lassen. Jetzt habe ich endgültig die Gewissheit, dass alles gut ist.“

Er hat Glück gehabt. Viele Beobachter fanden es im Nachgang unverantwortlich, den Spieler überhaupt wieder aufs Feld zu schicken, da ein zweiter Schlag auf den bereits traumatisierten Kopf schlimmen Folgen haben kann. Der Fußball nimmt Kopfverletzungen noch immer nicht richtig ernst, das hat auch diese Szene gezeigt.

Die Lebenserwartung eines NFL-Profis ist gering

Die Yale-Professorin und Football-Autorin („Newton’s Football“) Ainissa Ramirez beschreibt das Schädel-Hirn-Trauma plastisch: „Dein Gehirn ist das Eigelb. Wenn ich das Ei schüttele, bewegt sich das Eigelb im Innern und schlägt an die Schale.“ Irgendwann geht es kaputt. Das Eigelb. Und das Hirn. Ramirez spricht von einer „Gehirnerschütterungsepidemie“ im US-Sport.

Ein amerikanischer Mann wird im Schnitt 75 Jahre alt – die Lebenserwartung eines Spielers der National Football League (NFL) liegt unter 60 Jahren. Und eine Untersuchung der University of Michigan kam 2008 zu einem erschütternden Ergebnis: Für ehemalige Footballspieler zwischen 30 und 49 ist die Chance, an Krankheiten wie Alzheimer oder Demenz zu erkranken, 19-mal so hoch wie in der Normalbevölkerung. Mindestens 33 ehemalige NFL-Profis sind an „chronischer traumatischer Enzephalopathie“ gestorben. Die als „Boxer-Syndrom“ bekannte und Parkinson ähnliche Krankheit wird durch häufige Schläge oder Stöße auf den Kopf verursacht und führt zu verminderter Koordinationsfähigkeit und Demenz.

Auf die NFL kommen gewaltige Kosten zu

Selbst der US-Präsident Barack Obama hat sich angesichts der Zahlen besorgt geäußert: Er würde seinen Sohn, wenn er einen hätte, nicht zum Football schicken.

Vor wenigen Wochen ist ein Prozess zu Ende gegangen. Rund 4500 ehemalige Footballspieler, die unter Spätfolgen von Gehirnerschütterungen leiden, hatten aufgrund mangelnder Aufklärung und Schutz gegen Verletzungen die NFL verklagt. Ein Bundesgericht bestätigte einen Vergleich, der die NFL über 65 Jahre mehr als 800 Millionen Dollar kosten könnte.

Viele Eishockeyprofis mussten ihre Karriere beenden

Auch die Eishockeyliga NHL steht vor Gericht. Im Juli wurde die neueste Klage eingereicht, an der sich um die 100 Spieler beteiligt haben: „Die NHL hat absichtlich eine Kultur der extremen Gewalt kreiert und gefördert“, heißt es in der Begründung. Zudem seien Spieler nicht über die Erkenntnisse von Studien über die Folgen von Kopfverletzungen informiert worden. Zahlreiche Eishockeyprofis mussten wegen Gehirnerschütterungen ihre Karriere beenden, etwa Eric Lindros 2007; der heutige Superstar Sidney Crosby musste deswegen fast das ganze Jahr 2011 pausieren.

Erschütterungen des Kopfes lassen sich nicht vermeiden, schon gar nicht in körperbetonten Sportarten wie Football, Eishockey, Rugby, Boxen oder Fußball – der oftmals gefährliche Umgang mit der Gesundheit der Spieler allerdings schon.

„Wir Spieler sind nur ein Stück Fleisch“

Der zweimalige Superbowl-Gewinner Rodney Harrison, 41, galt selbst als einer der härtesten Spieler des Footballs. Nun fordert er mehr Sorgfalt von den Betreuern: „Wenn ich einen Gegner hart gestoßen habe und alles verschwommen sah, haben sie mich zur Seitenlinie geholt. Ich blieb einen Spielzug draußen, bekam zwei Schmerztabletten und dann hieß es: ‚Weiter geht’s!’“ Harrison hatte an die 20 Gehirnerschütterungen. „Ich habe Angst vor dem, was in 10, 15 Jahren ist. Ich habe Todesangst.“

Ähnlich äußert sich der ehemalige englischen Rugby-Nationalspieler Shontayne Hape: Vor einigen Monaten hat er nach seiner 20. Gehirnerschütterung die Karriere beendet. Er leidet an Gedächtnisproblemen, Stimmungsschwankungen und Depressionen. „Die Ärzte haben mir erklärt, dass mein Hirn so traumatisiert ist, dass ein Klaps reicht, um mich auszuknocken.“ Er wirft den Trainern vor, auf die Gesundheit der Spieler keine Rücksicht zu nehmen. „Wir Spieler sind nur ein Stück Fleisch.“ Hapes Vorwürfe im Mai haben im Rugby eine intensive Diskussion ausgelöst.

Die NFL hat inzwischen Maßnahmen ergriffen

Profisport ist vor allem ein Geschäft. Ob Rugby, Football, Fußball oder Eishockey – es geht um Geld. Um Erfolg im Hier und Jetzt. Davon sind alle abhängig: Spieler, Trainer, Ärzte. Und es gibt viele Fans, die das Spektakel lieben, harte Tacklings, schwere Checks im Eishockey oder auch eine deftige Schlägerei.

Das Multi-Milliarden-Dollar-Unternehmen NFL (Jahresumsatz zehn Milliarden Dollar) hat aufgrund der Klagen und seines Imageproblems Schutzmaßnahmen ergriffen: bessere Helme, verbesserte medizinische Versorgung und Forschung sowie Nachjustierungen am Regelwerk – Attacken gegen den Kopf zum Beispiel werden heute scharf bestraft. Mit Erfolg, sagt die NFL. 2011 wurden 266 Gehirnerschütterungen diagnostiziert, 2012 waren es 171, 2013 dann 152. Experten vermuten allerdings, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist.

Auch der englische Verband handelt

Über Deutschland war die Debatte erstmals Ende 2011 hereingebrochen, und ausgelöst hat sie Stefan Ustorf: Der Berliner hatte nach eigener Aussage bis zu 20 Gehirnerschütterungen in seiner Karriere gehabt. Das letzte Schädel-Hirn-Traum erlitt er im Dezember 2011. Er beendete seine Laubahn und kämpft seitdem für bessere Aufklärung, Früherkennung und Therapien. Die Deutsche Eishockey-Liga (DEL) hat in der Folge das Verfahren „SCAT2“ (siehe „Der Schnelltest“) eingeführt, Regeln geändert und Strafen erhöht.

Auch der englische Fußball-Verband FA hat zur neuen Saison schärfere Richtlinien erlassen. Demnach entscheidet künftig allein der Teamarzt über die Rückkehr eines Spielers aufs Feld. Die Spielergewerkschaft Fifpro fordert allerdings, dass ein unabhängiger Arzt darüber befinden müsse, ob ein Fußballer weiter spielen darf.

Gladbachs Teamarzt Stefan Hertl sagte der „FAZ“ übrigens, es sei „Wahnsinn“ gewesen, Kramer weiterspielen zu lassen.