Ganz Stuttgart glänzt und passt in eine Shoppingmall? Falsch, mitten in der Stadt blüht eine Schmuddelecke. Die StZ-Redakteure Erik Raidt und Ingmar Volkmann auf Roadtrip am Hirschbuckel. Eine Hommage an einen verkannten Ort.

Stuttgart - Das Ikea-Paket trifft ein. Doch im Pappkarton, den der Mann im türkisfarbenen Hemd aufreißt, verbirgt sich kein Billy-Regal, keine Malm-Kommode, keine Hängeleuchte Hektar, im Pappkarton liegt ein eiskalter Fleischspieß. Zeit für Nachschub in der Fritty Bar am Hirschbuckel – und natürlich ist der Fleischklumpen, der später, wenn er vom Grill durchgebraten ist, einmal ein Gyrosspieß sein wird, in Wahrheit keinesfalls vom schwedischen Möbelgroßhändler, sondern von einem griechischen Delikatessenhersteller verschickt worden.

 

Feierabendzeit am Hirschbuckel an der Eberhardstraße, wo Stuttgart zwischen Daddelautomaten, Table-Dance-Offerten und original belgischen Pommes frites ohne Hochglanzoptik auskommt. Es riecht nach Fett und Stress. Am Eingang des Spielcenters steckt ein Rudel Dauerpubertierender die Köpfe zusammen. Selbst die Tauben, die um die Krümel der Fritty Bar kämpfen, sind schlecht gelaunt und hacken nacheinander.

Am Tresen der Fritty Bar. In Gesellschaft von: je zwei Flaschen Hofbräu, zweimal Pommes rot-weiß, einmal Gyrosbrötchen, einmal Steak (schwarzbraun) in Brötchen (weiß). In der Fritty Bar tragen alle Mitarbeiter türkisfarbene Hemden. Der neue Gyrosspieß ist widerspenstig. Die Plastikfolie klebt am kalten Fleischklumpen, es hilft alles nichts: Der Fleischspießsachbearbeiter hängt den Spieß in die Metallstange am Grill ein. Die Hitze soll die Folie gefügig machen.

Das Bier verdunstet in der Flasche

Inzwischen brummt es im Imbiss. Pommes gehen gut, Wurst geht gut, Brötchen gehen auch gut – draußen bei den Tauben. An der rechten Wand, halbhoch, läuft Musikfernsehen, Madonna singt „Frozen“, das entspricht aber nicht mehr den Tatsachen. Der Gyrosklumpen ist längst aufgetaut, die Folie hält (Drei-Wetter-Taft?), in der Nähe des Grills hat es gefühlt 4000 Grad.

Das Hofbräu verdunstet in der Flasche, die Wirklichkeit scheint zu verschwimmen. Oder ist es tatsächlich so, dass auf dem Weg zu den Klos eine Schwingtür eingebaut wurde, die mit ihren Lamellen einer Western-Optik nachempfunden ist? High Noon am Pissoir? Genau so verhält es sich in der Fritty Bar, und keine Ahnung, warum einem ausgerechnet beim Betrachten dieser Saloontür das Roadmovie „From Dusk till Dawn“ einfällt, in dem sich in einer Bar namens „Titty Twister“ die Handlung unter Beteiligung von tanzenden Vampirdamen blutrünstig zuspitzt.

Zwischen Spielcenter und Table Dance Bar

Der Gyrosspieß im „Fritty Twister“ ist jetzt so weit. Der Mann in Türkis schneidet die Folie vom Fleisch. Kundschaft kommt. Der Fleischsachbearbeiter bearbeitet einen der dünneren Gyrosspieße mit einem elektrischen Epiliergerät, bis das Fleisch in Streifen vom großen Klumpen wegspritzt. Erinnert an Nassrasur. Zur Fleischfontäne am Grill liefert inzwischen Jimi Hendrix die Hintergrundmusik. „Hey Joe, wir wollen zahlen“, der Hirschbuckel, dieses noch nicht blank polierte Stück Stuttgart, muss weiter erkundet werden.

Wie Las Vegas nur ohne Chi-chi und Bling-bling

Weg vom Tresen, neue Thesen: der Hirschbuckel ist das Las Vegas Stuttgarts, nur ohne Chichi und Bling-Bling. Rechts neben der ausgezeichneten Gastronomie wartet das Tivoli Spielcenter an diesem trüben Montagabend auf Gäste, links neben der Fritty Bar ist die Tahiti Table Dance Bar seit Generationen die letzte Anlaufstelle für Besucher aus dem Umland, die einen Junggesellenabschied stilvoll ausklingen lassen wollen. Doch für einen Ausflug in den schwäbischen Südpazifik waren zu viele Zwiebeln im Gyrosbrötchen. Kurzes Innehalten. Die „Lichtspielbar“ (Eigenwerbung) verspricht kostenloses Wlan. Für den freien Internetzugang müssten die Nutzer jedoch im Gegenzug bei Facebook öffentlich machen, dass sie sich gerade in der Animierbar am Hirschbuckel vergnügen. Das könnte arbeitsrechtlich schwierig werden.

Im Spielcenter nebenan geht es weihnachtlich-besinnlich zu. Die Kunstpalme mit Lamettafäden ist genau richtig fürs Gemüt. Zwischen zwei Spielautomaten brennt eine Zigarette, die im Aschenbecher vergessen wurde, der Filter glimmt einsam vor sich hin. Fünf Spieler fordern ihr Glück heraus. Unterhaltungen scheinen einem geheimen Verhaltenskodex gemäß verboten. Wer hier neu ist, passt sich an. Wenigstens die Automaten sprechen mit den Glücksspiel-Anfängern. Leider in einer unbekannten Sprache. Es piept, es blinkt, es leuchtet – leider erhellen sich dadurch nicht die Spielregeln. Um die Gewinne, die gleich sprudeln werden, aufzufangen, stehen Plastikgeldbecher der Firma Kiesewetter bereit. Ihre Beschriftung gleicht einem Versprechen: „Gold Rush“. Doch der Einsatz ist rasch verzockt. Schnell weg, das Weihnachtsgeld ist in Gefahr.

Panoramablick auf einen großstädtischen Schmelztiegel

Verlässt man das Tivoli nach links und wählt nicht die Treppen hinab zur Hirschstraße, sondern schleicht am Gold-Ankauf – mit Istanbul-21-Aufkleber an der Türe – und am größten Entlüftungsrohr der Innenstadt vorbei, dann kommt man an einen der besten Logenplätze, die das nächtliche Stuttgart im Sommer zu bieten hat. Von hier oben aus hat man einen fantastischen Panoramablick auf den Außenbereich der Clubs Schocken und Proton. Als es früher die After-Hour im City Department/Toy noch gab, seinerzeit eine der ersten Adressen der Landeshauptstadt für eine amphetamingewürzte AfterHour, konnte man von hier oben aus einen großstädtischen Schmelztiegel bewundern: rechts das After-Hour-Publikum, extrem gut drauf, ganz links die Proton-Gäste, extrem maskulin, und in der Mitte die Sozialpädagogik-Studenten unter den Schocken-Stammgästen, die zwischen den beiden genannten Milieus in einem zum Scheitern verurteilten Diskurs-Seminar vermitteln wollten.

Der Roadtrip endet an einem Trachtengeschäft

An diesem Abend herrscht jedoch gähnende Leere bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Womöglich wärmt ja ein Blick in die Auslagen eines Einzelhändlers mit dem Namen „Games Workshop“. Das Schaufenster ist vielversprechend: Panzer, Soldaten und alle anderen Figürchen, die nötig sind, um die „Schlacht auf der Blutinsel“ (Werbeplakat) im heimischen Wohnzimmer nachspielen zu können. „Dein perfekter Einstieg ins Hobby“, verspricht die Aufschrift in der Auslage. Wäre nicht gerade Ladenschluss, hätte man hobbymäßig im Bereich Panzerkreuzer und Ork-Armee zuschlagen können.

Stattdessen führt der Roadtrip über den Hirschbuckel zu einem nur wenige Meter entfernten Trachtengeschäft. Wie passend: das schönste Dirndl im Angebot zeigt – wie könnte es auch anders sein – einen riesigen Hirsch. Der schmuddelige Buckel in der Innenstadt röhrt ganz gewaltig, dort brummt an 365 Tagen im Jahr ein Volksfest der etwas anderen Art. Zwar nicht so glamourös, wie es auf dem Cannstatter Wasen inszeniert wird, aber die bewährten Zutaten Glücksspiel, Gastronomie und gepflegte Unterhaltung sind auch dort vorhanden. In einer der letzten ehrlichen Ecken Stuttgarts, wo sich die Welt am Spieß dreht.