Als Albrecht Jahn aus Ostfildern seinem Vater zum letzten Mal begegnete, war er zwei Jahre alt. Im Sommer 1944 verliert sich die Spur.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Ostfildern - Ein „Herz für Kinder“ klebt auf der Eingangstür. Die Wohnung gleicht einem Flohmarkt, auch der letzte freie Flecken ist mit Krimskrams vollgestellt: Matchboxautos, Porzellanfiguren, ein Geschenkkorb mit Büchsenwurstvariationen. Aus dem Potpourri von tausend Sächelchen fischt Albrecht Jahn zwei alte Fotografien. Die eine zeigt das Porträt eines Mannes Mitte dreißig – runde Hornbrille, Kinngrübchen, die lichten hellen Haare penibel gescheitelt. Das andere zeigt den gleichen Mann in der Wehrmachtsuniform eines Obergefreiten. Er hält ein weißes Bündel auf dem Arm – der kleine Albrecht am Tag seiner Taufe. Da war die fünfköpfige Familie noch komplett.

 

Mehr hat der 70-jährige Albrecht Jahn aus Ostfildern nicht von seinem Vater Friedrich. Nicht mal das Aussehen, er kommt eher nach der Mutter. Im Frühling 1944, beim zweiten Geburtstag des Kleinen, sind sich Vater und Sohn zum letzten Mal begegnet. Was er über den Vater weiß, hat ihm die Mutter erzählt. Viel ist es nicht. Nach dem Krieg hatte Mathilde Jahn genug mit der Gegenwart zu tun und keine Zeit für Erinnerung. Und als der Sohn später gern Näheres über seinen Vater erfahren hätte, war sie schon tot. Die älteren Geschwister konnten noch ein paar Bruchstücke zum Vaterbild beitragen. Es ist ein farbloses Fragment geblieben.

Friedrich Jahn wird 1903 in Stuttgart geboren. Als er 1935 Mathilde heiratet, ist er Ingenieur bei der Maschinenfabrik Esslingen. 1939 wechselt er zu einer Berliner Firma, konstruiert dort Klimatechnik für Bunkerbauten. Die Familie zieht nach Strausberg, unweit der Großstadt. Es heißt, der Vater sei gutmütig gewesen, ehrgeizig, sportlich, musikalisch – er spielte Flöte. Mathilde Jahn hat in Strausberg bis zur Flucht ein Tagebuch geführt. Für ihren Sohn wurde es später zu einer kleinen Schatztruhe.

Das Tagebuch der Mutter wird zur Schatztruhe

„September ’42: An diesem Sonntag passierte ein wichtiger Eingriff in unser Familienleben: Der Vater bekam am Sonntag Morgen eine Postkarte mit dem Einberufungsbefehl. Er soll am 1. Oktober Soldat werden. Gut ist, dass er hier in der Kaserne ausgebildet wird . . . Oktober ’42: Vater ist Soldat. An den ersten drei Sonntagen gehen wir alle – samt dem Kinderwagen – in die Kaserne und besuchen den lieben Vater . . .  November ’42: Zu Albrechts Taufe wollten wir nach Stuttgart, es wurde nicht erlaubt. Man nimmt an, die Soldaten kommen bald weg . . .  Bei der Taufe war niemand außer unsere kleine Familie. Die Feier war recht ernst. Der Vater in Uniform. Keine Tischkränze. Ein paar Blumen, ein einfaches Kriegsessen, guter Kuchen und Kaffee. Abends muss der Vater zurück in die Kaserne.“

Nach dem Mauerfall ist Albrecht Jahn nach Strausberg im Oderland gefahren. Das Haus, den Garten, den See hat er den alten Fotografien zuordnen können. Aber in seiner Erinnerung wurde nichts lebendig. Ein großer, blinder Fleck. Wie wäre es wohl, fragte er sich damals, wenn er seinen Vater noch einmal sehen würde?

Seine letzte Feldpost trifft aus den berüchtigten Prypjatsümpfen Weißrusslands ein. Dann nie mehr ein Lebenszeichen. Friedrich Jahn gilt als vermisst. Vater gibt es für Albrecht nur als Wort. Er erinnert sich an die schlanken, weißen Kerzen, die er mit seiner Mutter abends für ihn ins Fenster stellt. Das muss die Zeit gewesen sein, als sie vor der Entscheidung steht, ihren Mann für tot erklären zu lassen – und so wenigstens Anspruch auf eine kleine Rente zu haben – oder ihn als Vermissten weiterleben zu lassen. Irgendwann macht sie sich schweren Herzens auf zur Behörde.

Als Junge hätte sich Albrecht oft einen Vater gewünscht – „ vor allem für meine Mutter“. Einer, der stark ist, der ihr hilft und zur Seite steht „Alles lastete auf ihrer Schulter, sie war oft am Ende“, sagt er. Im März ’45 flüchtet sie mit ihren Kindern zurück nach Stuttgart. Der Krieg geht zu Ende, der Überlebenskampf nicht. Tagsüber kümmert sich Mathilde Jahn um die Kinder, nachts sortiert sie Pakete. Manchmal bringt sie eine Tafel Ritter-Sport von der Postkantine mit nach Hause.

Mathilde Jahn hat nicht mehr geheiratet

Albrecht geht bei einem Orgelbauer in die Lehre, später wird er Krankenpfleger, der Beruf erfüllt ihn. Seit 28 Jahren lebt er mit seiner Frau Inge in Nellingen, ebenso lang singen sie schon im Kirchenchor. Er ist außerdem im Polizeichor Esslingen, beim Bäckerchor Stuttgart und beim Männerchor Berg. Man schätzt ihn als einen geselligen, liebenswerten Menschen – wie schon seine Mutter in ihr Buch schrieb: „Der Junge ist sehr artig und freundlich, er lacht immer und nimmt die anderen an die Hand.“

Mathilde Jahn hat nicht mehr geheiratet, es gab keinen anderen Mann in ihrem Leben. Albrecht hat ihr drei Enkel geschenkt: Gudrun, 27, ist heute Bäckereifachverkäuferin, Peter, 32, Speditionskaufmann und Mike, 37, Gartenfachwerker. Albrecht Jahn fehlte ein Vorbild. Einer, der ihm vorlebte, wie man als Vater sein muss. Er hat es trotzdem ganz gut hinbekommen. Die drei Kinder leben noch im Elternhaus, jeder hat eine kleine abgetrennte Wohnung. „Das ist doch ein Zeichen, dass sie sich wohlfühlen bei uns.“ „Dezember ’42: Erster Advent. Wir zünden die Kerze an. Albrecht strahlt in seinem Laufstall über das ganze Gesicht. Der Vater darf dieses Freuen und die Freude noch miterleben. Auch das zweite Adventlicht haben wir noch gemeinsam mit Vater angezündet. Dann, am gleichen Tag, kam der Vater fort, mit den vielen anderen Soldaten nach Russland zu . . .  Es wird Weihnachten. Ohne den Vater muss es gehen und werden. Die Kinder verstehen den Ernst des Krieges nicht. Und der kleine Albrecht weiß noch gar nichts von der schlimmen Kriegszeit . . .  Oktober ’43: Wir wünschen uns, dass das Vaterle bald heimkehren darf. Bei Albrecht geht das Sprechen noch langsam. Mama ist sein Lieblingswort, er sagt es in allen Tonarten. Papa kann er jetzt auch sagen, die Großen haben es ihm beigebracht. Doch er sagt es immer seltener, weil der liebe Vater gar nicht zu sehen ist. Immer noch ist er fern von uns im Krieg in Russland, im Mittelabschnitt.“

Jahn ist ein fleißiger Sammler für die Kriegsgräberfürsorge

Albrecht Jahn zählt seit Jahrzehnten zu den fleißigsten Sammlern der Kriegsgräberfürsorge. Fast jedes Jahr landen mindestens 2500 Euro in seiner Büchse, so viel schafft keiner im ganzen Bezirk. „Ich glaube“, sagt er, „im Unterbewusstsein tue ich das auch für meinen Vater.“

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge kümmert sich um die Gräber der deutschen Kriegstoten im Ausland. 825 Grabfelder mit 2,5 Millionen Toten, verteilt auf 45 Staaten in Europa und Nordafrika, befinden sich heute unter seiner Obhut. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nahm der Verein seine Arbeit auch im früheren Ostblock auf, wo allein im Zweiten Weltkrieg drei Millionen deutsche Soldaten ums Leben kamen. Viele der mehr als hunderttausend Grabanlagen waren schon längst zerstört, überbaut oder geplündert – oder überhaupt nicht mehr auffindbar.

716 000 Soldaten wurden in Osteuropa umgebettet

Während der letzten Jahre richtete der Volksbund 500 Friedhöfe der beiden Weltkriege wieder her oder legte sie neu an. 716 000 tote Soldaten wurden umgebettet. Allein in Russland bergen hauptamtliche „Umbetter“ des Volksbunds in Zusammenarbeit mit einheimischen Hilfskräften jährlich immer noch 45 000 Tote und legen deren Gebeine in Gräber auf Sammelfriedhöfen. Nur so sei es finanziell möglich, die Gedenkstätten auch dauerhaft zu pflegen, sagt der Landesgeschäftsführer Martin Lunitz. „Viele der Toten können heute noch identifiziert werden – durch Erkennungsmarken, Eheringe, Skelettmerkmale oder Aufzeichnungen.“ Wenn die Lage es zuließ, habe die Wehrmacht damals hinter der Front Gräber angelegt und darüber Buch geführt. Oft müsse man sich bei der Suche nach Massengräbern auf Zeitzeugen oder Geländeskizzen stützen, was die Arbeit enorm erschwere. Der letzte von 19 großen Sammelfriedhöfen in Russland mit 60 000 Toten des Mittelabschnitts ist jetzt bei Smolensk fertig geworden. Auf einen Obergefreiten Friedrich Jahn, geboren 1903 in Stuttgart, gibt es bis heute keinen Hinweis. „März ’44: Noch vor Albrechts zweitem Geburtstag ist das Vaterle, nach 15 Monaten, in Urlaub gekommen. Eine zu lange Zeit für Albrecht, um noch eine Erinnerung zu haben. Am Heiligen Abend morgens um 6.45 Uhr war er einfach da. Ein Klingeln und ein Pfiff, unser Pfiff, und der Vater stand im Flur. Albrecht war auch aufgewacht und stand im Bett. Ich habe ihn rausgeholt, und er rannte sofort zu den anderen, sofort war er auch beim Vaterle, es musste so sein. Die drei Wochen Urlaub gehörte er wieder zur Familie. Wir machten einen Ausflug nach Bad Mergentheim zur Tante, einen Besuch in Stuttgart. Nur zu schnell sind die schönen Tage vergangen. Es ging wieder heim nach Strausberg. Und am nächsten Morgen war der Vater wieder fort, als der Albrecht erwachte . . .  Juli ’44: Der Krieg tobt an allen Fronten schlimmer als an Ostern, auch dort, wo unser Vaterle gewesen ist. Wir warten täglich auf Nachricht, die schon so lange auf sich warten lässt.“

Seit elf Jahren vermittelt die Volksbundstiftung „Gedenken und Frieden“ Reisen zu Kriegsgräbern und Gedenkstätten im Ausland. Nach Russland ist Albrecht Jahn bis jetzt noch nicht gekommen. Aber mit einer Schulklasse und ein paar älteren Herren hat er mal eine Busfahrt nach Straßburg gemacht. Sie waren auf einem Gräberfeld, haben gebetet, gesungen und einen Kranz niedergelegt. „Das war zwar in Frankreich“, sagt er, „ich hab trotzdem an meinen Vater in den Prypjatsümpfen gedacht.“

// Alle bisher erschienenen Serienfolgen unter http://stzlinx.de/vermisstwird