In Pakistan kursieren immer neue Mutmaßungen, was genau in Abbottabad passiert ist. Das Versteck Osama bin Ladens war bescheiden.

Abbottabad - Abdul Wahid hat Sorgen. Über den Bergen am Horizont von Abbottabad ziehen dunkle Wolken auf. "Wenn es regnet", sagt der 28-jährige Vater eines zweijährigen Jungen, "dann muss ich schon wieder aufhören." Er steht inmitten seines Felds mit langen Reihen von Blumenkohlköpfen. Auf der Schulter trägt er einen kleinen Tank mit Pflanzenschutzmitteln. Wahid ist im Verzug. Zwei Tage lang hat Pakistans Polizei ihn nicht auf sein Feld gelassen. Der kleine Acker war abgesperrt, weil es gleich hinter dem dreistöckigen, beigen Haus liegt, in dem am Montagmorgen Osama bin Laden von einem US-Spezialkommando erschossen wurde. Jetzt läuft Wahid entlang der Blumenkohlreihen. Zwei Sicherheitsbeamte in Zivil filmen den harmlosen Bauern bei der Arbeit.

 

Auf der anderen Seite des Gebäudes am Rande von Abbottabad haben sich Neugierige vor dem hohen, grünen Tor versammelt, hinter dem Osama bin Laden jahrelang lebte. Eines der leuchtend roten Siegel, die auf dem Eingang kleben, ist halb abgerissen. Ein Polizist mit einer uralten Kalaschnikow bewacht gelangweilt das Tor, hinter dem am Montag Weltgeschichte geschrieben wurde. Auf der Wand prangt auf weißem Untergrund Werbung für die "Jamia Mädchenschule". Oberhalb der drei Meter hohen Mauer sind ein paar zertrümmerte Fensterscheiben zu sehen. Eine Sonnenblende hängt schrägt an der Wand. Sie wurde von den Explosionen bei der Aktion aus der Verankerung gerissen. Die beige getünchte Fassade ist von Flecken übersät, wo nackter Beton hindurchschimmert. Bei genauerem Hinschauen erweist sich das Haus als ein typisches großes, aber schäbig aussehendes Anwesen, wie man sie häufig bei Neureichen im Grenzgebiet von Pakistan antrifft.

Schießübungen sind an der Tagesordnung

Zwei Autos besaßen die Bewohner, einen kleinen roten Minivan und einen zerbeulten weißen Jeep. "Wir glaubten, die Bewohner seien wohlhabende Leute", erzählt Wahid bei einer Pause von der Feldarbeit. Er schiebt sich eine Prise Kautabak in die linke Backe. "Sie besaßen ein großes Grundstück. Aber bei den Autos haben sie keinen Wert auf Luxus gelegt." Manchmal sah er die freundlichen, aber zurückhaltenden Bewohner des Hauses davonfahren. Die beiden bärtigen Männer, die man in der eher bescheidenden Gegend am Rand der Stadt mit ihren weitläufigen Militäranlagen vom Sehen kannte, saßen vorne. Die Frauen trugen weiße Burkas.

Irgendwo in der Nähe knallen Gewehrschüsse. Der Lärm stört niemanden in der Umgebung. Schießübungen auf einem der Schießplätze in den Kasernen gehören in dem Ort nördlich der Hauptstadt Islamabad zur Tagesordnung.

"Wegen der Burkas haben wir geglaubt, die Leute seien Paschtunen," erzählt Wahid, "wir hörten schon mal die Kinder spielen. Aber die Bewohner haben kaum Lärm gemacht." So hermetisch das Haus abgeschottet war, so zurückhaltend verhielten sich die Bewohner gegenüber den Nachbarn. "Manchmal kamen zwei bärtige Männer mit den Kindern heraus und haben im Laden von Abdur Rashid Eiscreme und Schokolade gekauft", berichtet der Bauer weiter. "Sie hatten gute Kleider. Aber das war nichts Besonderes. Wir versuchen doch alle, unsere Kinder etwas besser aussehen zu lassen."

"Ein einfacher, bescheidener Typ"

Die Kinder gingen von Zeit zu Zeit mit den Erwachsenen zu einem kleinen Kramladen, der rund 150 Meter entfernt an der Ecke von zwei ungepflasterten Gassen liegt. "Sie haben alle Paschtu gesprochen", erzählt Umar, einer junger Mann, der einen kleinen, schäbigen Friseursalon mit zwei Barbierstühlen betreibt, "aber sich nie viel mit uns unterhalten."

Der Eigentümer von Osamas Haus firmierte offiziell im Grundbuch unter dem Namen Mohammed Arshad. Wasser- und Gasanschluss waren auf den Namen Arshad Khan angemeldet. Fahnder gehen davon aus, dass es sich um den gleichen Mann handeln soll. Die Bewohner verwendeten jedoch kein städtisches Wasser. Im Gebäude befanden sich auch kein Telefon- und Internetzugang. Als Mohammed Arshad, dessen offenbar gefälschte Papiere ihn als Bewohner der Stadt Charsadda in der Nähe von Peshawar auswiesen, einen Teil des Lands im Jahr 2005 von dem Arzt Qazi Mahfooz Ul Haq erstand, behauptete er, das Grundstück für einen Onkel zu kaufen.

"Er war ein einfacher, bescheidener Typ", erinnert sich der Mediziner an den Mann. Wahrscheinlich gehört Arshad zu den vier Toten, die laut US-Angaben bei der Kommandoaktion ums Leben kamen. Einer von ihnen war der Kurier, der die USA auf die Spur von Osama brachte. Bei dem Mann handelte es sich offenbar um Sheikh Abu Ahmed, einen in Kuwait geborenen Pakistaner, der den Decknamen Abu Ahmed al-Kuwaiti trug und mit Khalid Sheikh Mohammed an der Vorbereitung der Attentate vom 11. September 2001 beteiligt war.

Viele Pakistaner glauben nicht an bin Ladens Tod

Abbottabad ist offenbar ein häufig frequentierter Ort auf der Landkarte des Terrors. Laut den Guantanamo-Papieren, die von Wikileaks veröffentlicht wurden, zog der Libyer Abu al-Libi schon Mitte 2003 in die Garnisonstadt. Er war als Al-Qaida-Kurier zwischen der Stadt und anderen pakistanischen Orten eingesetzt. Al-Libi wurde am 2. Mai des Jahres 2005 in der nahe gelegenen Stadt Mardan verhaftet. Im Januar 2011 erwischten Fahnder dann Umar Patek, einen der wichtigsten Planer des Attentats im Jahr 2002 auf der indonesischen Ferieninsel Bali, in Abbottabad. Am Donnerstagmorgen verhafteten Pakistans Behörden in Abbottabad einen Sudanesen, einen Ägypter und einen Jemeniten unter dem Verdacht, Al-Qaida-Mitglieder zu sein.

Doch während die pakistanischen Behörden nach der Riesenblamage mit Osama bin Laden nun offenbar die Stadt nach weiteren Mitgliedern des Terrornetzwerks durchsuchen, sind viele Pakistaner noch immer nicht überzeugt, dass Osama tatsächlich in dem Haus von Bilal Town erschossen wurde. "Warum zeigen sie die Leiche nicht", fragt der Ladenbesitzer Faisal, "und wieso haben sie angeblich die Leiche ins Meer geworfen?" Ähnliche Zweifel hegen Tage nach der Kommandoaktion auch viele der Schaulustigen, die nun einen kleinen Ausflug zur letzten Fluchtburg von Osama bin Laden unternehmen. "Unsere Sicherheitskräfte sind so gut", sagt ein etwa 40 Jahre alter Mann, der seinen Namen nicht nennen will, "es kann nicht sein, dass sie fünf oder sechs Jahre nichts mitbekommen haben."

Viele Pakistaner, die ähnlich denken, ziehen daraus freilich nicht die Schlussfolgerung, dass Unfähigkeit oder Komplizenschaft im Spiel gewesen sind. "Ich bin sicher, dass es sich um eine Schau handelt", sagt etwa die 40-jährige Fatimah Quereshi. Sie gibt den Tenor wieder, der in den Fernsehtalkshows der zahlreichen pakistanischen Privatsender vorgegeben wird.

Der Kampf war "extrem einseitig"

Die Informationslage gibt nach wie vor Rätsel auf. Neue, von der Agentur Reuters veröffentlichte Fotos von Leichen erwecken den Eindruck, dass mindestens zwei der Toten, vermutlich bin Ladens Sohn Khalid und ein Vertrauter des Al-Qaida-Gründers, durch Kopfschüsse getötet wurden. Auch der dritte Tote, ein weiterer Bin-Laden-Vertrauter, scheint einen Kopfschuss zu haben. Darüber hinaus korrigierten die USA abermals ihre Darstellung der Ereignisse, ohne jedoch die Kopfschüsse zu erklären. Der Sprecher des Weißen Hauses, Jay Carney, hatte anfangs behauptet, dass die US-Kommandos bei der gesamten Operation in Feuergefechte verwickelt gewesen seien.

Nun räumte Washington laut "New York Times" ein, dass der Kampf "extrem einseitig" war - zu Deutsch: Bin Laden und die anderen Getöteten haben sich offenbar kaum oder gar nicht gewehrt. Laut neuester US-Version habe nur einer von bin Ladens Vertrauten, Abu Ahmed al-Kuwaiti, überhaupt auf die etwa 20 Elitesoldaten geschossen, und zwar im Gästehaus neben dem Hauptgebäude: durch eine Tür hindurch. Die Amerikaner hätten ihn und eine Frau dort getötet. Nach letzter US-Darstellung hatte sich die Frau in die Schusslinie geworfen, um den Mann - vermutlich ihren Ehemann - zu schützen. Später, so räumte nun Washington laut "New York Times" ein, wurde nicht mehr auf die Amerikaner geschossen. Diese hätten jedoch geglaubt, dass die anderen Bewohner bewaffnet und gefährlich gewesen seien.

Indische Informationen schüren Zweifel an der US-Heldensaga

Waffen sind auf den Fotos nicht zu sehen, sondern nur ein grün-orangefarbenes Plastikteil, bei dem es sich laut Reuters wahrscheinlich um eine Spielzeug-Wasserpistole handelt. Reuters hat die Fotos nach eigenen Angaben aus pakistanischen Sicherheitskreisen erhalten und stuft sie als authentisch ein. Auffällig ist, dass die Augen vom mutmaßlichen Sohn bin Ladens geschlossen sind. Hat jemand der Leiche von Khalid noch respektvoll die Augen zugedrückt? Schon die ersten Fotos vom Tatort hatten stutzig gemacht. So deuten die Blutlachen darauf hin, dass mindestens zwei Männer direkt neben ihren Betten starben. Dies legt nahe, dass sie dort überrascht und getötet wurden. Rätselhaft ist, dass sie offenbar trotz des aufkommenden Lärms keine Zeit hatten, sich entweder irgendwo zu verschanzen oder zu den Waffen zu greifen, wenn sie denn welche besaßen. Stattdessen hatte bin Laden laut neuester US-Version seine Waffen - eine AK-47 und eine Makarov-Pistole - zwar "in Reichweite", aber nicht in der Hand.

Zugleich schürten Informationen aus Indien weitere Zweifel an der US-Heldensaga von der jahrelangen Jagd auf bin Laden. Wie die "Times of India" berichtete, hatte der indische Geheimdienst die Amerikaner bereits Mitte 2007 und erneut 2008 gewarnt, dass sich bin Laden nicht allzu weit von Islamabad in einem der Wohngebiete des Militärs einer bevölkerten Stadt versteckt halten könnte. Tatsächlich wurde bin Ladens Versteck dann in der Garnisonsstadt Abbottabad, eine Stunde Autofahrt von Islamabad entfernt, entdeckt. Das Weiße Haus hatte dazu eine hollywoodreife Story erzählt, wonach ein Guantanamo-Häftling - vermutlich unfreiwillig - 2005 Informationen über einen Bin-Laden-Kurier preisgegeben hatte. Letzteren hätten die US-Agenten dann in jahrelanger Spionagearbeit identifiziert und bis zum Versteck in Abbottabad verfolgt.

Dagegen gelang es dem indischen Geheimdienst offenbar, bin Ladens Vertraute zu identifizieren und ihre Bewegungen nachzuverfolgen - ohne dafür Guantanamo-Häftlinge zu verhören. Laut "Times of India" ignorierten die USA jedoch beide Male die indischen Tipps.