Dass die Vesperkirche in Nürtingen nun schon zum zehnten Mal ihre Pforten geöffnet hat, ist nicht nur ein Grund zum Feiern. Das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden. Das zeigt sich auch im Kirchenraum.

Nürtingen - Die Nürtinger Vesperkirche, die Mutter aller Vesperkirchen im Kreis Esslingen, ist eine Erfolgsgeschichte. Das ist eine klare Botschaft, die der Nürtinger Oberbürgermeister Otmar Heirich am Sonntag anlässlich des Gottesdienstes zur zehnten Auflage des Begegnungsprojekts formuliert hat. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die Seite, die sich mit Zahlen belegen lässt. Für den Erfolg sprechen 56 000 Essen, die seit den Anfängen im Februar 2008 ausgegeben worden sind. Oder 9000 seither gewaschene Schürzen oder beinahe 270 000 gespülte und getrocknete Besteckteile.

 

Doch da gibt es auch die andere Seite. Sie glänzt nicht so, wie die noch bis zum Sonntag, 19. Februar, jeden Tag frisch polierten Bestecke. „Die Vesperkirchen als Begegnungsstätten sollte es noch lange geben“, sagt der Nürtinger Dekan, Michael Waldmann. „Auf die Vesperkirche als Armutsprojekt dagegen können wir verzichten.“

Alles, nur kein Alibi

Begegnungsstätte, Kontaktbörse, Auszeit, Armenspeisung, Nahrung für die Seele, Zeichen gegen Ausgrenzung, Ehrenamtskatalysator, ein Wärmestrom in der Stadt – die Vesperkirche will vieles sein, nur eines will sie nach dem Willen der Organisatoren nicht: Sie will nicht als Alibi taugen oder zur Besänftigung des Gewissens dienen. Diesen Wunsch, verbunden mit der Feststellung, wonach gesellschaftliche Teilhabe ein Menschenrecht sei, hat Waldmann ins Jubiläumsheft geschrieben, das zehn Jahre Vesperkirche in Nürtingen Revue passieren lässt.

Allein dieses Zitat macht deutlich, wie sich die Vesperkirche in den vergangenen Jahren verändert hat. Sie ist politischer geworden, und sie scheut sich nicht, den Finger in die Wunde der Gesellschaft zu legen. Diese Wunde brennt heftiger denn je. „Wir geben jeden Tag bis zu zehn Prozent mehr Essen aus als in den Vorjahren“, sagt Bärbel Greiler-Unrath, die das organisatorische Zepter in der Lutherkirche seit dem Jahr 2014 in der Hand hat. Ihrem Eindruck nach ist Armut im festlich eingedeckten Kirchenraum zuletzt wieder deutlicher sichtbar geworden. „Man sieht den Menschen die Armut an. Und die Leute schämen sich nicht mehr, darüber zu reden“, sagt die Diakonin. Pro Tag gehen derzeit im Schnitt 250 Essen über den Tisch, an den Wochenenden sind es gut 300.

Zahl der Bedürftigen hat zugenommen

Ein weiteres Anzeichen dafür, dass vermehrt Bedürftige das günstige Essensangebot – das Drei-Gänge-Menü gibt es in der Lutherkirche zum symbolischen Preis von einem Euro – in Anspruch nehmen, ist nach Einschätzung von Eberhard Haußmann, dem Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbands, die zunehmende Verweildauer. „Bedürftig sind die Menschen nicht nur im Sinne finanzieller, sondern auch emotionaler Bedürftigkeit. Früher sind die Leute nur zum Essen gekommen. Jetzt sind viele schon um 11.30 Uhr da und bleiben, bis wir um 13 Uhr abräumen“, sagt er.

Aber es gibt zum Jubiläum auch erfreuliche Nachrichten. Inzwischen spielt die Vesperkirche erfolgreich im virtuellen Raum mit. Der Internetauftritt auf Facebook hat vor allem hinter dem Tresen, an der Essensausgabe, eine neue Dynamik ausgelöst. „Es sind Engel vom Himmel gefallen“, umschreibt Bärbel Greiler-Unrath die Tatsache, dass viele junge Internetnutzer den Weg als Helfer in die Vesperkirche gefunden haben. „Mithilfe der sozialen Medien haben wir hier den dringend notwendigen Generationswechsel geschafft“, sagt die Cheforganisatorin.

Entstanden ist die Vesperkirche aus dem Projekt Sichtwechsel heraus – vor neun Jahren vorangetrieben von Michael Waldmann und Eberhard Haußmann. Krawattenträger und Sozialhilfeempfänger an einem Tisch – das war die Idee der Anfangsjahre. Diese Idee will die Pfarrerin der Lutherkirche, Bärbel Brückner-Walter, im Jubiläumsjahr wieder mit Leben füllen. Am Freitag, 19. Mai, wird eine lange Tafel mitten durch die Altstadt Nürtingens gerichtet. An ihr sollen 1200 Menschen Platz nehmen – als Zeichen des Miteinanders in Toleranz und gegenseitiger Wertschätzung.