Der VfB Stuttgart hat beim 3:4 in Leverkusen die ganze Spanne seines Fußballs geboten: Erst entwickelte der Fußball-Bundesligist Offensivpower, am Ende stand er jedoch fassungslos da.

Sport: Carlos Ubina (cu)

Leverkusen - Versteinert standen sie da. Florian Klein, Daniel Schwaab, Timo Baumgartl, auch Lukas Rupp. Nur Daniel Didavi bewegte sich. Nichts wie weg wollte der Spielmacher des VfB Stuttgart von diesem schrecklichen Ort. Frustriert schlich er vom Platz, während der Rest der schwäbischen Fußballdelegation auf dem Rasen verharrte. Mit hängenden Köpfen, leerem Blick – und nichts in den Händen.

 

Wieder einmal waren den Stuttgarter Bundesligafußballern die sicher geglaubten Punkte aus den Fingern geglitten. Erst drei, dann auch noch der eine. Dabei hätte man im VfB-Lager schon ein Unentschieden an diesem Samstagnachmittag bei Bayer Leverkusen als unnötig empfinden können. Zumindest bis zur 70. Minute eines aufregenden, wilden und auch irrwitzigen Spiels, das der VfB am Ende mit 3:4 verlor.

Und wer sich der Begegnung in der Bay-Arena von hinten nähert, der sieht nicht nur das Resultat, sondern ebenso, wie das letzte, das siebte Tor in der zweiten Hälfte zustande kam: Der VfB lief in einen Konter. So weit, so schlecht. Aber: in Leverkusen! Bei einem Champions-League-Teilnehmer! In der 89. Minute! Das machte viele VfB-Anhänger wütend und ließ ihre Analysen immer in den gleichen Schluss münden: Bei so einem verrückten Spielverlauf – der Außenseiter lag 2:0 und 3:1 vorne – muss man kurz vor dem Abpfiff hinten dicht machen. Das muss ein Trainer hinbekommen.

Zornigers Erklärungen

Doch dieser einfachen und auch berechtigten Fußballwahrheit kann sich Alexander Zorniger nicht so einfach anschließen. „Soll ich meinen Spielern grundsätzlich Aktivität vermitteln und dann sagen, jetzt sollen sie punktuell hinten passiv stehen? Das geht nicht“, sagt der Coach. Für ihn ist der Fußball komplex und ein Ergebnis die Folge von vielen Faktoren. „Wir konnten die außergewöhnliche individuelle Qualität der Leverkusener nicht mehr verteidigen“, sagt Zorniger. Er sagt es immer wieder, und er kann und will dabei nicht nur die letzte, entscheidende Szene des Spiels beurteilt wissen – sie über alles stellen. Als die Gäste weit aufgerückt waren, im Mittelfeld aber den Ball nicht eroberten, in der Abwehr Toni Sunjic einmal mehr hinterher lief und Klein bei Admir Mehmedis Siegtor einmal mehr schlecht aussah.

„Von den vier Gegentoren war eine halbe Umschaltaktion der Leverkusener dabei“, sagt Zorniger, „bei den anderen hatten wir die volle Combo im eigenen Strafraum.“ Sprich: Überzahl in Ballnähe. Dennoch schafften es die Verteidiger nicht, Zugriff auf die jeweilige Situation zu bekommen. Beim Anschlusstreffer zum 1:2 durch Karim Bellarabi stellte sich zuvor Sunjic tölpelhaft an. Beim 2:3 durch Sebastian Boenisch unterlief dem 18-jährigen Arianit Ferati ein „Wahrnehmungsfehler“ (Zorniger), weil er während eines schnell und kurz ausgeführten Eckballs die Position wechseln wollte, doch in der Mitte pennten weitaus erfahrenere Kräfte. Und beim 3:3 durch Chicharito ging es in der Stuttgarter Abwehr wie so oft drunter und drüber.

Dutts Kritik

„Wir haben nach etwa 60 Minuten nicht mehr kompakt verteidigt. Das war für mich der Knackpunkt“, sagt Robin Dutt. Mit der Einwechslung von Bellarabi veränderte sich vieles. So musste der Manager einmal mehr erleben, wie sich beim VfB Nachlässigkeiten einschleichen, wenn es der Elf auch nur für zehn Minuten zu gut geht. 23 Gegentore hat der VfB deshalb schon in zehn Ligaspielen kassiert – ein Wert, der die Verantwortlichen bedenklich stimmen muss und Experten außerhalb des Vereins an der Erstliga-Tauglichkeit der Abwehr zweifeln lässt. Vor allem an der Innenverteidigung mit Sunjic und Baumgartl. Sie stabilisiert nicht, sie destabilisiert. Sie bringt keine Ordnung, sie schafft Chaos.

Ein Problem, das nicht neu ist. Ein Problem, dem sich Manager Dutt stellen muss. Er konnte es durch seine Personalpolitik bisher nicht beheben. Ein Problem auch, weil Zorniger versucht, die Spielweise komplett umzukrempeln und extrem „vorwärts verteidigen“ lässt. Im Moment entfaltet dieses Problem eine selbstzerstörerische Kraft beim VfB. Alles, was in Leverkusen eine Stunde lang gut geklappt hatte, war plötzlich nichts mehr wert. All die Wucht, die sich aus dem Gegenpressing der Stuttgarter entwickelt hatte, schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Das ist das Spannungsfeld, in dem sich Zorniger mit seinem System bewegt. Die vielen kleinen Verbesserungen werden überdeckt von den vielen großen Niederlagen. Sie lasten mittlerweile schwer auf der Seele der Mannschaft. Auch wenn der Trainer die Frage nach der vermeintlich parallel verlorenen Überzeugung für sein „Spiel gegen den Ball“ nicht für besonders clever hält. Weil Überzeugung eben nicht messbar ist – und weil es Zorniger bisher stets geschafft hat, das Team neu zu überzeugen.

In Leverkusen marschierte der VfB, hielt sie sich gut an den Matchplan mit den drei Sechsern um Daniel Schwaab im Mittelfeld. In Leverkusen führte der Überfallfußball zu drei Toren – durch Martin Harnik, der sich aus dem Formtief kämpft; durch Daniel Didavi, der von Leverkusen umworben wird; durch Lukas Rupp, der sein erstes Bundesligator für den VfB erzielte. Das wären schöne Geschichtchen rund um einen Stuttgarter Erfolg gewesen.

Doch dem VfB gelingt es nicht, den Konjunktiv aus seinen Spielen heraus zu halten. Und so gelingt es dem VfB auch nicht, sich aus den Zwängen des Alltags zu befreien. Seit Saisonbeginn überlagern – typisch für einen Abstiegskandidaten – die schlechten Ergebnisse die guten Ansätze. Auch jetzt wieder vor dem DFB-Pokalspiel am Mittwoch. „In Jena wird’s ekelhaft“, sagt Zorniger vor der Partie beim Regionalligisten aus Thüringen, „danach wird’s in der Liga gegen Darmstadt noch ekelhafter. Da müssen wir punkten. Fertig.“