Der Trainer Thomas Tuchel kann sich durchaus vorstellen, beim VfB Stuttgart anzuheuern. Doch der Bundesligist hat offenbar kein Interesse.

Stuttgart - Hin und wieder geschieht es, dass man Thomas Tuchel auf der Tribüne irgendeines Stadions sitzen sieht. Es sind so diskrete wie seltene Ausflüge in die Fußball-Öffentlichkeit, aus der er sich ansonsten vorübergehend zurückgezogen hat. Niemals käme der Trainer während seines Sabbatjahres auf die Idee, an einem Fernsehstammtisch Platz zu nehmen oder in einer Expertenrunde daran zu erinnern, dass es ihn auch noch gibt.

 

Thomas Tuchel (41) äußert sich nicht öffentlich zu seinen Zukunftsplänen, seit er am Ende der vergangenen Saison beim FSV Mainz 05 ausgestiegen ist und sich in eine einjährige Auszeit verabschiedet hat. Sehr ausgiebig wird dafür seither über Thomas Tuchel geredet, der aufgrund seines Intellekts, seiner Persönlichkeit, seiner Leidenschaft und seines Fachwissens unter den aufstrebenden jungen Trainern als der hoffnungsvollste gilt. Wer bekommt Tuchel? – das ist seit Sommer die Frage.

Meist ist er der erklärte Wunschkandidat, wann immer irgendwo ein neuer Chefcoach gesucht wird. Das ist bei RB Leipzig so und auch beim Hamburger SV. Überall würden sie ihm den roten Teppich ausrollen. Nur in Stuttgart ist das anders. Dabei ist ausgerechnet der VfB einer jener Clubs, bei dem Tuchel am liebsten wieder ins Berufsleben einsteigen würde. Nach Informationen der Stuttgarter Zeitung hat er entsprechende und eindeutige Signale ausgesandt. Bislang sind sie ins Leere gegangen.

Es gibt Gründe für die Vorliebe

Tuchels Vorliebe für den VfB hat mehrere Gründe. Zum einen ist es schlicht so, dass er wieder als Trainer arbeiten möchte, die in Frage kommenden Plätze aber begrenzt sind. Bei den Topteams aus München, Dortmund, Schalke oder Gladbach sind die Trainerbänke belegt. Gleiches gilt für die Werksclubs aus Leverkusen und Wolfsburg, die für ihn, genau wie die neureichen Emporkömmlinge aus Hoffenheim und Leipzig, aufgrund fehlender emotionaler Bindung ohnehin kaum in Betracht kämen.

Hannover, Hertha oder Frankfurt mögen die gewünschte Tradition haben – für einen solchen Mittelklasseclub mit beschränkten Aufstiegsmöglichkeiten aber hätte Tuchel den FSV Mainz nicht unter so turbulenten Umständen verlassen müssen. Bleiben also zwei bevorzugte Optionen: Der HSV und der VfB, die beiden Bundesligadampfer, die zwar massiv Schlagseite haben, dafür aber über umso größere Wachstumspotenziale verfügen. Hamburg rechnet sich sehr gute Chancen aus – doch wird in den Foren sehr lebhaft diskutiert, warum der Chaosclub aus dem Norden die besseren Chancen haben sollte.

Viel mehr spricht eigentlich für den VfB. Das hängt damit zusammen, dass für Tuchel bei der Jobwahl auch die weichen Standortfaktoren eine Rolle spielen. Sehr eng ist seine emotionale Beziehung zur Stadt und zum Verein – wichtige Voraussetzungen für ihn, eine Stelle anzutreten. Tuchel, geboren im schwäbischen Krumbach, hat in Stuttgart studiert und pflegt noch immer Freundschaften von damals; er hat in einer Bar am Rotebühlplatz gekellnert, bei den Kickers Fußball gespielt und später auf Initiative des damaligen Nachwuchschefs Ralf Rangnick in der VfB-Jugend erste Trainerfahrungen gesammelt.

Der VfB ist ein besonderer Club

Dass der VfB für ihn ein ganz besonderer Club ist, daraus hat Tuchel auch in früheren Gesprächen mit der StZ kein Geheimnis gemacht. Selbst ein Abstieg, so heißt es, sei nicht automatisch ein K.o.-Kriterium. Als reizvoll könnte es Tuchel empfinden, den VfB wieder nach oben zu führen.

Fragt sich nur: warum bloß setzt die Stuttgarter Vereinsführung nicht alle Hebel in Bewegung, um jenen Mann zu gewinnen, dem sämtliche Experten eine große Trainerkarriere prophezeien?

Vor einiger Zeit soll sich Tuchel mehrmals in geheimer Mission mit VfB-Verantwortlichen getroffen und seine grundsätzliche Bereitschaft erklärt haben. Im Moment aber gibt es keinen Kontakt mehr. Inzwischen befindet sich der VfB in weit fortgeschrittenen Verhandlungen mit Alexander Zorniger – eine Einigung steht bevor. Auch Zorniger (47) gilt als talentierter Trainer, auch er hat eine VfB-Vergangenheit. Dass er jedoch auch über eine ähnlich starke Persönlichkeit wie Tuchel verfügt, bezweifeln viele Fachleute und halten ihn für die deutlich bequemere Lösung.

Der VfB will die Vorgänge auf Anfrage nicht kommentieren. „Wir fokussieren uns allein auf den Klassenverbleib und stärken unserem Trainer Huub Stevens weiter den Rücken“, sagt Robin Dutt. Doch kann man sich gut vorstellen, dass der Manager kein gesteigertes Interesse daran hat, mit Tuchel zusammenzuarbeiten. Als Sportvorstand begreift er sich als der neue starke Mann beim VfB. Dutt will die Zukunft selbst gestalten – und müsste wesentliche Kompetenzen abgeben, sollte er neben einem Trainer wie Tuchel sitzen.

Tuchel hat seinen eigenen Kopf

Keine Frage: Thomas Tuchel hat seinen eigenen Kopf und seine eigenen Vorstellungen. Er lotet ganz genau aus, wo er die beste Perspektive hat. Im Umgang gilt er als manchmal schwierig, was der Mainzer Manager Christian Heidel bei der Trennung im Sommer ebenso spüren musste wie ein halbes Jahr vorher der Schalker Sportchef Horst Heldt, der sich in den Geheimverhandlungen mit Tuchel bereits am Ziel wähnte. Ein Makel muss diese Unbeugsamkeit nicht sein – vielmehr scheint sie zu den wesentlichen Charaktereigenschaften großer Fußballtrainer zu gehören: Ob Pep Guardiola, Louis van Gaal oder José Mourinho, sie alle sind kompliziert gestrickt – und vielleicht auch deshalb so erfolgreich.

Klar ist daher auch: wer Tuchel holt, der muss auch dessen Bedingungen akzeptieren. Im Falle des VfB würde das bedeuten, dass der Trainer alles anders machen würde als bisher. Doch kann nach den Jahren der Dauerkrise niemand behaupten, dass dies nicht auch dringend nötig wäre.

Auch Klopp stand schon bereit

Der Präsident Bernd Wahler selbst ist es, der gerne von weitreichenden Veränderungen spricht und harte Entscheidungen ankündigt. Der Beweis aber, es wirklich ernst zu meinen, der steht aus. Als es zuletzt Vorstandsposten zu besetzen galt, entschied sich der Verein für die naheliegenden Lösungen, die (von dem scheidenden Sportdirektor Jochen Schneider abgesehen) keinem ernsthaft wehtaten. Ob sich ein Verein auf diese Weise erneuern kann, ist die große Frage. Viele Fans treibt die Sorge um, dass sich auch nach dieser Horrorsaison wieder nichts verändern wird.

Vor ein paar Jahren hatte der VfB die Möglichkeit, Jürgen Klopp zu engagieren. Auch für ihn wäre es eine Herzensangelegenheit gewesen, für jenen Verein zu arbeiten, bei dem er einst als Fan im A-Block stand. Doch der VfB zögerte und zauderte, bis Klopp nach Dortmund ging. Der Rest ist bekannt. Für Stuttgart ist Klopp längst zu groß geworden. Mit Thomas Tuchel könnte sich diese Geschichte nun wiederholen.