Die Videodays in Köln sind das größte Youtuber-Treffen Europas. Alles wirkt verspielt – und ist letztlich doch ein auf maximalen Profit angelegtes Geschäft.

Köln - Drei Stunden noch bis zur Ekstase. Die beiden Freundinnen hocken im Schneidersitz vor einem Zaun, sie tragen Sneaker, sie haben ihre Smartphones gezückt. Natalie, 14, und Sofia, 15, sind aus Berlin angereist, um in Köln jene Stars zu erleben, die sie sonst in Youtube-Videos sehen. „Wir gucken das nach der Schule“, erzählt Sofia, „so zwei Stunden am Tag, manchmal länger.“ Und Fernsehen? „Da ist alles so gestellt“, sagt Natalie, während sie auf dem Smartphone eine Nachricht verschickt, „dort erzählen die Leute nicht aus ihrem echten Leben.“ Das echte Leben wollen an diesem Tag in Köln 15 000 überwiegend junge Fans spüren.

 

Bei den Videodays treffen in der Lanxess-Arena die beliebtesten Youtuber Deutschlands auf ihr maximal euphorisiertes Publikum. Natalie und Sofia fiebern dem Auftritt von Mike Singer entgegen, der es dank Youtube zum Popstar geschafft hat. Seitdem wird der 17-Jährige aus dem badischen Kehl als die deutsche Antwort auf Justin Bieber gehandelt. Youtube bietet den beiden Berliner Mädchen Antworten auf alle Lebensfragen: Mike Singer taugt fürs Herz, die Videotagebücher des ebenfalls 17-jährigen Deenis TJ stimmen sie nachdenklich, die Filmschnipsel des papageienhaften Marvyn Macnificent (Video mit dem Titel: „Mein Bruder schminkt mich zum Frosch!“) bieten Tipps fürs Schminken und die Hautpflege.

Trennlinie verläuft zwischen Jung und Alt

Youtube spaltet. In bedingungslose Fans, die die Videos ihrer Idole mit Dutzenden von Smileys und Herzen kommentieren – und in jene, welche die Namen von Szenestars wie Dagi Bee, Apecrime oder Gronkh noch nie gehört haben. Die Trennlinie verläuft zwischen Jung und Alt. Von den 14- bis 19-Jährigen nutzen 92 Prozent im Internet den Videokanal. Von den über 60-Jährigen sind es nur 41 Prozent. Der Suchmaschinenbetreiber Google hat das Potenzial des Kanals früh erkannt. Nur ein Jahr nach der Gründung von Youtube unterbreitete der Konzern dessen Gründern ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnten: Es belief sich auf rund 1,3 Milliarden Euro. Seitdem hat die weltgrößte Vertriebsplattform für Videos einen Absatzmarkt nach dem nächsten erobert. Adidas setzt längst auch auf Youtuber, die die neuen Schuhe präsentieren. Angela Merkel erklärt handverlesenen Youtubern die Zukunft – und selbst die Industrie- und Handwerkskammer Reutlingen gibt Gas und sucht einen Youtuber mit der „Lizenz, das bisweilen konservative Bild der IHK durcheinanderzuwirbeln“. Wenn Shoppingcenter wie das Gerber oder das Milaneo junge Käuferinnen anlocken wollen, laden sie Youtube-Größen wie Sami Slimani ein, der sich in einem seiner jüngsten Videos dem Thema „Das erste Mal Nasen-Haare entfernen“ widmete. Das Ergebnis: Begeisterung bei der Generation Zahnspange, Ratlosigkeit bei den Best Agern.

Das frühe Aufstehen hat sich für Natalie und Sofia gelohnt. Beide kämpfen sich an den roten Teppich vor, der aufgrund des Hauptsponsors magentafarben ist. Natalies Eltern haben die Mädchen nach Köln begleitet, „aber das hier wollten sie sich nicht antun“, sagt Natalie. „Und das ist auch gut so“, sagt Sofia. „Oh mein Gott, oh mein Gott!“ Vor der Veranstaltungshalle schwillt ein Kreischen an – immer dann, wenn einer der Stars ein paar transparente Plastikfolien beiseiteschiebt, die einem mit Werbebotschaften bedruckten Duschvorhang ähneln. Auf der einen Seite des Teppichs werden Reporterfragen beantwortet, auf der anderen Seite die meist weiblichen Fans umarmt. Die erste Grundregel: Smartphone mit ausgestrecktem Arm in die richtige Position bringen und lächeln. Vier Selfies für ein Halleluja.

Manche erklären auch mathematische Formeln auf Youtube

Unter den Stars trifft man neuzeitliche Kopien früherer Idole: Da kommen Klone von Tokio Hotel (sehr lautes Kreischen), gefolgt von Klonen von Sylvester Stallone (mittellaut) und einer Kopie der Sängerin Lena (Stille). Youtube lebt von Sängern, von mehr oder weniger lustigen Comedians, aber unter den bekannten Gesichtern erklären manche auch mathematische Formeln, Durchbrüche in der Gentechnik oder die Politik von Donald Trump.

Für all diese Szenegrößen ist Youtube längst viel mehr als jene private Spielerei mit wackliger Kamera und Mikrofon. „In der Branche beobachte ich eine unglaubliche Professionalisierung“, sagt Christoph Krachten, der die Videodays mit veranstaltet. Wie recht er hat, zeigt ein Streifzug durch die bunte Youtube-Welt, der bei einem sommerlichen Videoclip endet: Darin haben zwei Männer die Hosen an. Die Badehosen zumindest, und eigentlich sind die Männer nur große Jungs Anfang 20, die sich mit gewaltigen Wasserpistolen nass spritzen und sich gegenseitig in den Pool schubsen. Dort treibt ein tätowiertes Mädchen auf einer Luftmatratze umher. Tausendfach könnte man Varianten dieser Szene in einem deutschen Freibad beobachten, ohne dass sie irgendjemandem länger in Erinnerung bleiben würden. Doch diese Szene ist völlig anders. Einer der großen Jungen aus dem Video heißt Felix von der Laden, mehr als zweieinhalb Millionen Mal ist das Video auf der Plattform Youtube angesehen worden. Von der Laden ist einer der Topstars unter den deutschen Youtubern, die sich in Köln treffen. Er ist bekannt geworden, weil er Videos von sich ins Netz gestellt hat, die ihn beim Computerspielen zeigen. Unter dem Namen Dner hat sein Aufstieg begonnen. Jetzt, da er selbst ein Star ist, zeigt er seinen Fans sein Leben.

Schleichwerbung gehört zum Geschäft dazu

Oder zumindest die Inszenierung seines Lebens. „So, ganz langsam kann man da hinten schon Downtown Los Angeles erkennen“, spricht er in die Kamera, während er mit seiner Freundin von den Hollywood Hills aus auf die Stadt hinab sieht. Von der Laden ist Vollprofi: Das Freibad ist in Wahrheit der Pool einer Villa, die Szene mit der Freundin auf der Luftmatratze wird mit hämmernden elektronischen Beats unterlegt, der Schubser in den Pool mit Superzeitlupe aufgehübscht. Wo Felix von der Laden in rasendem Tempo über seinen Alltag spricht, da ist eine Profikamera nicht fern – oder sogar eine Drohne, die über dem Pool kreist und Bilder aus der Vogelperspektive liefert. Die Clips werden von Werbung unterbrochen, Produkte in die Kamera gehalten. Wenn Felix von der Laden in seinem Kölner Loft in der Küche hantiert, geschieht kein Handgriff zufällig: Spültücher, Kekse, Mineralwasser – bei jedem Produkt ist der Markenname beinahe zufällig zu erkennen. Product-Placement hat im Fernsehen immer noch einen Beigeschmack, bei den Youtubern gehört es ganz selbstverständlich zum Geschäftsmodell.

Bei den Videodays schlägt die Stunde der fleißigsten „Kanalarbeiter“. Mit dem Wort umschreiben viele Youtuber augenzwinkernd ihren Job. Diejenigen, die im Netz mehr als eine Million Abonnenten gewonnen haben, werden mit einem Golden Play Button ausgezeichnet. Reichweite ist alles – für die Social-Media-Stars, vor allem aber für das Unternehmen Youtube, das an jeder Werbung mitverdient. Natalie und Sofia stört das nicht. Die Displays ihrer Smartphones sind zwei schwankende Glühwürmchen unter Tausenden.