Villinger Wuescht Der Vagabund unter den Narren

Clemens Neugart mit seinem Sohn Benjamin im vergangenen Jahr Foto: privat

Normalerweise würde Clemens Neugart an diesem Dienstag wieder beim großen Umzug in Villingen mitlaufen. Stattdessen sitzt der 43-Jährige daheim und erzählt, warum er sich darauf freut, im kommenden Jahr endlich wieder in das ramponierte Häs eines Wueschts zu schlüpfen.

Villingen-Schwenningen - Den Pulverdampf abgefeuerter Spielzeugpistolen in der Nase, die Taschen voller Süßigkeiten: Wenn Clemens Neugart an die Februartage seiner Kindheit zurückdenkt, dann sind diese Erinnerungen präsent. Noch mehr aber als Käpsele und Bonbons ist es der Geruch von feuchtem Leinen und Stroh, den der heute 43-Jährige schon immer mit Fasnacht verbindet. Stroh, das Clemens Neugart bereits als Fünfjähriger von seinem Vater ins Häs gestopft bekommen hat. Von Kindesbeinen an schon ist Clemens Neugart ein Wuescht – zunächst eine Spottfigur, längst aber eine Kultfigur der Villinger Fasnet. Die Strohmänner sind im schwäbisch-alemannischen Raum einzigartig.

 

Der Wuescht (ausgesprochen Wuääscht) ist der Gegenpart zum stolzen, aristokratisch wirkenden Narro. Ein abgewetztes und teils geflicktes Häs, eine alte, nur seitlich vor das Gesicht gehaltene Holzmaske, einen Reisigbesen in der Hand und ein Holzbrett auf dem Rücken, auf dem unter anderem Schweineblasen befestigt sind: Das sind die Insignien des Punks unter den Villinger Narren.

„Am Schluss do kummet diä Schönschte“, werden die Wueschte am Ende des Umzugs durch die historische Innenstadt begrüßt. Pure Ironie. Und dennoch oder vielmehr gerade deshalb ist der Wuescht zum Liebling der Menge entlang der Umzugsstrecke geworden. Wo der vornehme Narro mit Fuchsschwanz, Scheme mit fein geschnittenen Gesichtszügen, Kragen, Seidentuch und Glacéhandschuhen stolze Bewunderung auslöst, belustigt der Wuescht mit seiner Unbeholfenheit. Gerade wenn die Gruppe während des Umzugs in den Trab verfällt, kann sich niemand das Lachen verkneifen. Der eigentlich wüste Wuescht zählt zu den Attraktionen in der Fasnethochburg Villingen. Das Auffälligste an der närrischen Gestalt sind dabei die mit Stroh gefüllten Beinkleider.

Mehr als 50 Wueschte darf es nicht geben

An jedem Fasnetmentig geht Clemens Neugart morgens vor acht zu einem alten Schopf in der Nähe der Altstadt. Dort treffen sich 50 Wueschte und begrüßen sich mit einem übermütigen, lang gezogenen „Wueeescht!“. Ein ganzes Jahr lang haben sich die hier Versammelten auf diesen Augenblick gefreut. Unter der Aufsicht des Wueschtvaters Matthias Frey richten sie sich für den Umzug der historischen Narrozunft. 50 und nicht mehr – im Unterschied zu den Narros haben die Wueschte eine Obergrenze. Jedes Jahr darf zwar eine Handvoll „Gastwueschte“ mitlaufen, doch die Warteliste ist lang, und es wird genau geschaut, wer zur Gruppe passt. Die Auswahl ist streng, nicht jedem ist es vergönnt, ein Wuescht zu sein.

Alle, die mitlaufen, kennen sich. „Wir sind eine eingeschworene Gruppe, das ist schon ziemlich exklusiv“, sagt Clemens Neugart. Der Narro mag zwar edel wirken, die eigentliche Elite ist aber der Wuescht. Jedenfalls aus Sicht der Wueschte. Für das Ausstopfen der Beinkleider braucht es Übung. Zu viel Stroh und zu festes Stopfen würde die Bewegungsfreiheit einschränken, besonders im Schritt. „Das ist schon eine Kunst, das muss man lernen“, sagt Clemens Neugart. Früher gab es fast nur große Wueschte. Inzwischen sind auch circa 30 Kinder mit dabei. Die liegen noch in den Federn, wenn die älteren am Montagmorgen bereits um vier Uhr im Stockdunkeln auf den Beinen sind. Das ist die Zeit des Weckens, mit dem die Narren den Zeilen des Villinger Schunkellieds Bedeutung geben: „Älles spritzt us em Bett.“

Beim kollektiven Wecken dabei sind auch die Heranwachsenden. Als Weckinstrumente dienen beispielsweise Gitarren oder auch alte Kochtöpfe. „Was halt Krach macht“, erklärt Clemens Neugart. Für manche Wueschte beginnt der Tag mit einer Weißweinschorle. Bis spät in die Nacht oder in den folgenden Morgen hinein wird es nicht die letzte sein. Ein echter Wuescht lässt es krachen. Was gerade für die Wueschte zur Fasnet zwingend dazugehört, ist der Teller gebrannte Mehlsuppe, zubereitet aus Mehl, Fett, Fleischbrühe und Weißwein. Sie bietet nicht nur eine perfekte Grundlage für die Strapazen der Narretei, sondern stopft auch tüchtig. Denn nichts kommt einem Wuescht wegen des Strohs ungelegener als der Gang zur Toilette. Und die vielen Weißweinschorle? Landen die auf ihrem Weg durch den Körpertrakt letztlich, wie gemutmaßt wird, tatsächlich in dem Stroh, das schließlich zum Abschluss der Villinger Fasnet am Dienstag zur Geisterstunde aufgehäuft auf dem Marktplatz verbrannt wird? Dieses Geheimnis wird nicht gelüftet, auch Clemens Neugart beruft sich hier auf sein Schweigegelübde.

Von Kneipe zu Kneipe

Sicher ist, dass die Wueschte auf der Gass’ und in den Kneipen Stroh ausgewählten Menschen in den Ausschnitt stecken, bevorzugt den hübschen Frauen und Mädchen oder – meist im Fall der weiblichen Wueschte – adretten Männern. Wer ein solches Sträußle abbekommt, darf sich etwas einbilden, gilt dies in Villingen doch als eine besondere Ehre. Bis zu acht Kilogramm wiegt das mit Stroh gefüllte Häs, das Brett mit fünf bis zehn Kilogramm kommt noch obendrauf. „Vor allem schwitzt man wie die Sau, wenn man in der Kneipe ist“, sagt Clemens Neugart. Anders als der Narro hat der Wuescht kein festes Domizil. Die Gruppe bleibt zusammen und zieht von Stüble zu Stüble, von Kneipe zu Kneipe. Der Wuescht ist der Vagabund unter den Narren. Auf den Touren kommt es schon mal vor, dass der eine oder andere irgendwo seinen Besen oder seine Maske vergisst. Ein solcher Fauxpas muss später mit einem Fass Bier gutgemacht werden, so will es der Kodex der Wueschte.

Nicht immer durfte der Strohmann den Oscar für die beste Nebenrolle der Villinger Fasnet beanspruchen. Die frühesten historischen Zeugnisse vom Wuescht datieren um 1750 herum. Chroniken berichten, dass sich einst Knechte und Handwerksgesellen gerade aus dem ländlichen Umland zerschlissene Narrohäser besorgt, sie mit Stroh ausgestopft haben und so auf die Fasnet gegangen sind – um für wenige Tage Standesschranken zu überwinden, um dabei zu sein und Spaß zu haben, auch ohne Geld für ein teures Häs. Recht wüst sahen diese „Landhansel“ aus, wie der Villinger Fasnachtsforscher Albert Fischer sie einst bezeichnet hat. Ihrem Äußeren verdanken sie ihren Namen: Wuescht. Aus der Not wurde eine Tugend. Die Wueschte etablierten sich in der Fasnet.

Die individuell gestalteten Holzbretter (Krätzen) auf dem Rücken bilden noch immer eine ideale Zielscheibe. Früher wurden die Wueschte von Kindern mit Steinen unter Beschuss genommen. Wegen des Verletzungsrisikos ist die Munition aber längst durch Tannenzapfen und Schneebälle ersetzt worden. Clemens Neugart schöpft aus einem reichhaltigen Schatz an Anekdoten. Als Achtjähriger, erinnert er sich, wurden er und andere kleine Wueschte mit Dreck und Eiern beworfen. Das ließen sich die kleinen Hästräger nicht bieten und revanchierten sich mit Schokokusswürfen gegen die Fenster am Haus der Angreifer. Ein Wuescht wäre kein Wuescht, wenn er nicht zu allerlei Schabernack bereit wäre. Ein zu Ohrringen umfunktionierter Restaurant-Kronleuchter, Berge von Klopapierrollen in einer Zeitungsredaktion oder eine Lastwagenladung Zuckerrüben in einer Privatwohnung – der Einfallsreichtum an Späßen ist schier unbegrenzt.

Derb ja, boshaft nein

„Dabei geht es öfters derb zu, das ist bei uns einfach so“, sagt Neugart. Gerade die Wueschtsprüchle, die zum Wuescht gehören wie das Stroh, sind direkt und nichts für Zartbesaitete. „Früher sin d’Villinger ge Schwenninge ins Hallebad numgloffe. Die Villinger hän ins Wasser gsoacht, und d’Schwenninger die hän’s gsoffe. Wuescht!“ Dieses Sprüchle singen die Wueschte, wenn erkennbar Gäste aus Schwenningen die Umzugsstrecke säumen. Badener und Schwaben in der Doppelstadt sind sich bis heute nicht immer grün. Dabei ist aber auch hier wieder eine gute Portion Ironie im Spiel. Und ohne Sinn für Humor wird einem die Welt der Wueschte verschlossen bleiben. Derb ja, boshaft nein, das gilt auch für dieses Sprüchle: „Narro, Narro, Lumpenhund, häsch nit gwisst, dass d’Fasnet kunnt.“ Zwar wird auch hier einerseits eine klare Abgrenzung zur Hauptfigur der Villinger Fasnet deutlich, dennoch gehört der Wuescht fest zur Narrofamilie. Schon seit 1882 sind die Wueschte in die Narrozunft integriert, und seit 1912 hat der Wueschtvater einen festen Sitz in der Vorstandschaft – der endgültige Ritterschlag für die ehemaligen Schmuddelkinder der Fasnet.

Clemens Neugart wohnt schon lange nicht mehr in Villingen. Nach dem Studium in Leipzig ging der Bauingenieur mit seiner Frau im Jahr 2005 nach London. 2013 kehrten sie zurück nach Deutschland, die Familie mit drei Kindern lebt in Ludwigsburg. In all den Jahren in der Diaspora hat der Exil-Wuescht keine Fasnet verpasst. Nur einmal, als Tochter Mathilda geboren wurde, stieg er in England nicht in den Flieger. Diesmal fällt Fasnacht der Pandemie zum Opfer. Das ist für viele hart. „Manche Villinger geben ihr Leben für die Fasnet“, unterstreicht Clemens Neugart den Stellenwert der fünften Jahreszeit im Schwarzwald. Die Hoffnung ruht auf dem nächsten Jahr. Klar, dass Clemens Neugart dann wieder ins Häs schlüpft. Mit dabei sein wird sein Sohn Benjamin. Als Vierjährigem hat er ihm vergangenes Jahr erstmals Stroh ins Häs gestopft und mit auf den Umzug genommen – auf dass aus ihm einmal ein großer Wuescht werde. Wie der Vater, so der Sohn. Clemens Neugart ist als Wuescht geboren worden. Einmal Wuescht, immer Wuescht, diese Tradition wird fortgesetzt.

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