Nach vielen Versuchen werden echte virtuelle Welten Realität. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der alles umfasst – von Spielen über Kommunikation bis zum Lernen. Die diesjährige Messe E3 in Los Angeles ist der nächste große Schritt auf dem Weg zum Durchbruch.

Stuttgart -

 

Die Monster-Libelle lässt sich nicht verscheuchen. Immer wieder greift das Tier an. Der Besucher befindet sich in einer Höhle in einem Nest mit riesigen Eiern. Dann erzittert die Erde – und aus der Ferne taucht ein Dinosaurier auf. Nach wenigen Sekunden ist der Tyrannosaurus rex näher gekommen und brüllt mit weit aufgerissenem Maul einen markerschütternden Schrei.

Es ist nur eine kleine Demonstration, die das Programmierstudio Crytek aus Frankfurt am Main zeigt. Der Tester hat sich ein sogenanntes „Virtual Reality“-Headset auf den Kopf geschnallt und ist für die Dauer des Ausflugs in die Urzeit von der Software „Back to Dinosaur Island“ aus dem Hier und Jetzt gerissen. Kopfhörer, die alle Geräusche der Realität ausblenden, machen die Illusion perfekt.

Crytek, eine der wichtigsten Software-Spieleschmieden Deutschlands, will mit dieser Demo nichts Geringeres als eine Technikrevolution einläuten. Vor einigen Jahren schuf Crytek die sogenannte „Crysis“-Trilogie. Das ist eine Computerspiel-Serie, die nicht zuletzt wegen ihrer fotorealistischen Dschungel-Darstellung vielfach ausgezeichnet wurde. Nun geht es zurück in den Dschungel, wenn auch vollkommen anders – denn heute ist die Dschungel-Erfahrung in virtueller Realität möglich.

Virtual Reality könnte Elektronikbranche umkrempeln

Im Jahr 2012 kam in den USA eine Revolution ins Rollen, die die gesamte Elektronikbranche umkrempeln könnte, glaubt Cevat Yerli, Geschäftsführer von Crytek: „Wir haben es mit einem transformativen Prozess zu tun“, sagt er. Einem Prozess, der bald schon bestimmen könnte, wie Menschen über Entfernung hinweg miteinander kommunizieren, spielen, Informationen austauschen oder lernen.

Auf der weltgrößten Computerspielmesse E3, die ab Dienstag in Los Angeles stattfindet, könnte nun der nächste große Schritt in Richtung virtueller Realität erfolgen – etwa das Endzeit-Rollenspiel „Fallout 4“, das noch in diesem Jahr erscheinen soll, oder „Star Wars Battlefront“, ein Shooter, der die Atmosphäre der Filme in noch nie da gewesener Qualität einfängt. Bisher gab es auf dem Markt nur sogenannte „Developer Kits“, auf denen Programmierer erste Anwendungen erstellen sollten. Im November soll nun mit dem HTC Vive aber das erste professionelle Virtual-Reality-Headset für Spieler ausgeliefert werden. Vor wenigen Wochen hatte auch der Initiator der Technologie, Oculus VR, bekanntgegeben, dass im ersten Quartal 2016 sein erstes Headset für den Computer auf den Markt kommen soll.

Google will virtuelle Realität im Schulunterricht einführen

Viele Fäden laufen nun zusammen. Von Ubisoft über Eletronic Arts bis zu Microsoft und Apple – alle großen Firmen haben sich im Lauf der vergangenen Monate zu der neuen Technologie bekannt. Google will virtuelle Realität im Schulunterricht einführen. Chip-Hersteller AMD spricht sogar von der „unwiderstehlichsten Plattform aller Zeiten“. Und das amerikanische  Beratungsunternehmen Digi-Capital schätzt das VR-Marktvolumen bis zum Jahr 2020 auf rund 30 Milliarden Dollar.

Für Spieler wird damit ein lang gehegter Traum wahr: Nachdem Computer technisch mehr oder minder ausgereizt sind, ist „virtuelle Realität“ etwas komplett Neues. Aktuell stehen alle Entwickler dabei mehr oder weniger an derselben Startlinie.

Doch das Schaffen echter virtueller Welten stellt die Branche vor hohe Hürden, derzeit wird noch viel technisch experimentiert: „Seit Jahrzehnten sind wir es gewohnt, nach vorn auf einen Monitor zu starren. Virtuelle Realität aber findet um uns herum statt“, erläutert Crytek-Chef Yerli. Genügten bisher in Spielen meist fotorealistische „Tapeten“, um einen wirklichkeitsnahen Eindruck zu erzeugen, so müssen dreidimensionale Objekte nun von allen Seiten modelliert werden. „So kann man etwa direkt von oben in ein Dinosaurier-Ei hineinschauen“, erläutert Yerli. Seh- und Nutzergewohnheiten müssen aufgebrochen werden. Mehr noch: viele Fragen, die in der Programmierung bisher kaum eine Rolle gespielt haben, sind plötzlich zentral. „Wie gehen wir etwa mit Menschen in VR um, die Höhen- oder Platzangst haben?“, fragt Yerli. Denn die Empfindungen, die man in der Wirklichkeit hat, wird man später auch in virtueller Realität haben. Oder: „Wie sollte es sich anfühlen, wenn man in einem Computerspiel stirbt?“ Noch überhaupt nicht erforscht ist, welche Auswirkungen die neue Technologie etwa auf das menschliche Gehirn und die Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen insgesamt haben wird.

Virtuell neben einem Freeclimber hängen

Im Gegenzug wird mit der Technik theoretisch vieles möglich: ein Spaziergang durchs alte Forum Romanum etwa, virtuell neben einem Musiker auf der Bühne stehen oder neben einem Freeclimber an einer Wand hängen. Erste Ansätze bietet das Unternehmen Jaunt VR, das solche dreidimensionalen Filme erstellt. Die Verknüpfung von virtueller und echter Welt wird derzeit auch mit dem Projekt „The Void“ geprobt: Der Nutzer läuft mit aufgesetzter VR-Brille durch einen Gang, orientiert sich dabei an Wänden und Säulen. In der virtuellen Welt fühlt es sich dann so an, als würde man durch einen dunklen, von Spinnweben verhangenen Gang schleichen.

Ein bislang ungelöstes Problem ist die Interaktion mit der virtuellen Welt: In den vergangenen Monaten sind vielerlei Konzepte vorgestellt worden, die das Problem lösen sollen, dass man durch das Aufsetzen eines virtuellen Headsets zum Beispiel keine Tastatur mehr sieht. So könnte Sony für sein Headset „Projekt Morpheus“, das ebenfalls im kommenden Jahr für seine Konsolen auf den Markt kommen soll, auf der E3 ein entsprechendes System vorstellen. Die Interaktion mit der virtuellen Welt könnte dann durch spezielle Controller erfolgen, die man in der Hand hält und deren Bewegungen durch Laser im Raum erfasst werden – in der virtuellen Welt fühlt es sich dann so an, als würde man etwa einen Ball werfen. Vor wenigen Tagen hat Oculus sein System „Touch“ vorgestellt: Spezialcontroller, mit denen ein intuitives Agieren in der virtuellen Welt möglich werden soll. Doch auch spezielle, leichte Handschuhe befinden sich in der Entwicklung – übergestreift registrieren sie jede einzelne Fingerbewegung .

Aber der VR-Siegeszug ist nicht endgültig ausgemacht. Abschreckendes Beispiel ist 3-D-Fernsehen. Von den Herstellern über Jahre propagiert, hat sich der durchschlagende Erfolg nicht eingestellt. Hauptgrund: es gibt zu wenig Inhalte. Das ist eine Gefahr, die durchaus auch über VR schwebt. So sagt Crytek-Chef Cevat Yerli: „Wenn sich VR jetzt nicht durchsetzt, da die größten Unternehmen der Welt mit an Bord sind, dann ist das Thema zunächst gelaufen. Dann dauert es wenigstens wieder zehn Jahre bis zu einem neuen Anlauf.“ Eine Hürde ist dabei, dass es vor allem sehr gute Computer braucht, um die virtuellen Welten darzustellen – bislang wird vielen Nutzern übel, da die Bilder bei schnellen Kopfbewegungen direkt vor den Augen mit Verzögerung aufgebaut werden.