Vogel des Jahres Warum der Kiebitz aus dem Kreis Esslingen zu verschwinden droht

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Der Vogel des Jahres 2024 macht sich im Kreis Esslingen rar. Die Gründe liegen laut Naturschützern hauptsächlich in der Versiegelung von Flächen. Aber auch Fressfeinde wie Fuchs, Marder, Waschbär oder Katze machen den Vögeln das Leben schwer.

Der Kiebitz ist der Vogel des Jahres 2024. Früher galt er als „Allerweltsvogel“ doch mittlerweile gibt es laut Nabu nur noch 42 000 bis 67 000 Brutpaare in Deutschland. Doch wie sieht es im Landkreis Esslingen aus?

 

Harald Brandstetter steht vor dem großen See im Naturschutzgebiet Wernauer Baggerseen. Mit dem Fernglas schaut er auf den nördlichen Rand des Sees. „Dort drüben habe ich zuletzt 2022 einen Kiebitz gesehen“, erklärt der Ornithologe und Naturschutzwart des Naturschutzgebietes. Der Kiebitz sei auf der Durchreise gewesen. Normalerweise zieht er im Juli vom Norden Deutschlands in südlichere Gefilde und überwintert in Frankreich oder Spanien, so Brandstetter.

Harald Brandstetter /Marion Brucker

Ob er dieses Jahr wieder Station in Wernau machen wird, da ist sich Brandstetter nicht sicher. „2018 habe ich in Wernau fünf Durchzügler gesehen“, erzählt er. Im gesamten Landkreis dürften es jährlich schätzungsweise 20 sein. Ein Zugvogel bedeute kein Brutvorkommen. Brandstetter hat alle zwölf Ortsgruppen angefragt und festgestellt: Im Landkreis Esslingen gibt es seit 2000 keine brütenden Kiebitze mehr. 1950 seien die letzten Brutpaare in Leinfelden-Echterdingen gesichtet worden, sagt er.

Esslingen ist der am dichtesten besiedelte Landkreis im Südwesten

Grund für den Rückgang sind laut Brandstetter die Intensivierung der Landwirtschaft, das Trockenlegen von Feuchtwiesen und das Versiegeln von Flächen. „Der Kreis Esslingen ist der am dichtesten besiedelte Landkreis in Baden-Württemberg, geprägt von viel Industrie- und Gewerbegebieten“, sagt er. Vor allem in den 60er Jahren seien Gewässer durch Flussbegradigungen und Uferbefestigungen zerstört worden, erklärt Ralf Hilzinger, Vorsitzender der Nabu Stadtgruppe Esslingen. „Die Art konnte sich „umstellen“ und ist auf Ackerflächen ausgewichen“, sagt er. Diese „Ersatzflächen“ seien inzwischen ebenfalls weitgehend zerstört. Dadurch gebe es weder Brut- noch Nahrungshabitate. Hinzu komme, dass der Kiebitz als Bodenbrüter gut überschaubare Flächen brauche, um seine Fressfeinde rechtzeitig zu sehen. Neben den heimischen wie Marder, Fuchs, Wildschwein gehörten auch vom Menschen eingebrachte wie Waschbär und freilaufende Hunde und Katzen dazu. Schutzmaßnahmen in Esslingen sind Hirzinger zufolge nicht mehr direkt möglich. „Es ist alles zugebaut, was in Frage käme. Die Restflächen am Alten Neckar sind zu klein für den Kiebitz“, sagt er. Die Ansiedlung eines Brutpaares, in der Regel legt es vier Eier, bringe nichts, da die genetische Verarmung der „Population“ zu erwarten wäre. Und die Art sei auf Brutkolonien angewiesen, um Feinde abzuwehren. Die Ackerflächen in der Breite seien intensiv und vielfach mit Sonderkulturen bewirtschaftet. Sie fielen ebenfalls aus. Projekte wie die Wasserbüffel vom Nabu-Kirchheim gehen Hilzinger zufolge in die richtige Richtung. „Das müsste aber großflächig passieren. Zum Beispiel, das Körschtal renaturieren zwischen Denkendorf und Mündung“, sagt er.

Anreize für den Kiebitz zur Ansiedlung wären in Naturschutzgebieten mit Wassernähe und Feuchtezonen denkbar, meint Brandstetter, während er zu einer Info-Tafel im Naturschutzgebiet geht. Dort können Besucher über einen OR-Code abfragen, welche Vögel in den vergangenen 15 Tagen hier gesehen wurden. Rund 120 verschiedene Arten hat Brandstetter, der zweimal wöchentlich als Naturschutzwart dort präsent ist, bisher beobachtet. Er macht auf den Gesang einer Nachtigall aufmerksam, auf einer Insel im Baggersee sind Graureiher mit dem Fernglas zu sehen. In den zurückgebauten Gebieten der Daimler Teststrecke geben Frösche ein Konzert, während vor Brandstetter Graugänse mit ihren Küken vom Neckarufer Richtung Baggerseen wechseln. Ein solches Szenario kann er sich für den Kiebitz hier nicht vorstellen. 2017 haben sie zusätzlich zu den bisherigen Baggerseen Biotope angelegt, um den Flussregenpfeifer anzusiedeln. Dessen Habitat sei ähnlich. Aber bislang habe weder er noch der Kiebitz es angenommen. Dass der Kiebitz im Landkreis Esslingen wieder heimisch werde, hält er für utopisch. „Aber, die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt er.

Eine vom Aussterben bedrohte Art

Der Vogel des Jahres
 wird seit 1971 vom Nabu und seinem bayrischen Partner LBV gekürt. Seit 2021 wird er durch eine öffentliche Wahl bestimmt. 2024 trägt der Kiebitz den Titel. Mit 27,8 Prozent der Stimmen hat er sich gegen vier andere Kandidaten durchgesetzt. Nach 1996 ist der Kiebitz bereits zum zweiten Mal der Vogel des Jahres. Er steht als solcher für die Artenvielfalt in der Agrarlandschaft.

Bestand
 Der Kiebitz ist momentan bundesweit stark gefährdet, in Baden-Württemberg gilt er seit 2016 als vom Aussterben bedroht, da die Bestände stark eingebrochen sind. Weil die negativen Einwirkungen absehbar nicht aufhören werden, ist mit dem Erlöschen der Population zu rechnen. Die Rote Liste für die Stadt Esslingen weist ihn als ausgestorben aus.

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