Vogelschutzzentrum Mössingen Pflegestation für gefiederte Patienten

Die Tierpflegerin Rebecca Strege mit einem zahmen Milan, der resozialisiert werden muss, um in der Natur zu überleben. Foto: Andreas Reiner/Andreas Reiner

Können die jungen Mauersegler gerettet werden? Leben und Tod liegen im Vogelschutzzentrum Mössingen oft nah beieinander.

Eigentlich sind Mauersegler so etwas wie die Könige der Lüfte. Fast ihr ganzes Leben verbringen die Langstreckenzieher im Flug, wo sie in geschickten Manövern elegant nach Insekten jagen. Die jungen Mauersegler, die in einer Plastikschüssel in der Futterküche des Vogelschutzzentrums Mössingen wild mit den Flügeln schlagen, machen dagegen einen eher hilflosen Eindruck. Selbst wenn die Jungvögel schon flugfähig wären, wegen ihrer Stummelfüßchen, die typisch sind für Mauersegler, würde es ihnen schwerfallen, vom Grund der Schüssel abzuheben.

 

In der Aufnahmestation des Vogelschutzzentrums herrscht im Sommer Hochbetrieb. Daniel Schmidt-Rothmund, der seit mehr als 20 Jahren Leiter der 1994 gegründeten Einrichtung des Naturschutzbunds (NABU) ist, hat für die prinzipiell hohe Auslastung zu dieser Jahreszeit zwei einleuchtende Erklärungen. Die eine ist biologischer Art: „Jetzt gibt es bei uns einfach viel mehr Vögel als im Winter“, erklärt der Ornithologe. In der kalten Jahreszeit ersetzen die wenigen Zuzügler aus dem Norden, die hier in Süddeutschland überwintern, die Masse an Zugvögeln, die die kalte Jahreszeit lieber in südlichen Gefilden verbringen, bei Weitem nicht. Noch wichtiger aber: Die Natur sorgt im Frühjahr und Sommer massenhaft für Nachwuchs im Tierreich. „Sie produziert sozusagen im Überschuss“, erklärt der Biologe. Darüber hinaus habe es statistische Gründe, warum viele Menschen gerade jetzt besonders viele Vögel zu den Vogelschützern nach Mössingen an den Rand der Schwäbischen Alb bringen: „Die Leute sind im Sommer einfach viel mehr draußen unterwegs“, sagt Rebecca Strege, die seit 2017 als Tierpflegerin im Vogelschutzzentrum arbeitet. Anders als bei vielen anderen Vögeln, sei es bei Mauerseglern einfach zu beurteilen, ob der Vogel in einer hilflosen Situation ist, erklärt die 30-Jährige. Sitzt oder liegt einer dieser schwarz-braun gefiederten Vielflieger auf dem Erdboden, könne man sicher sein, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Wachsmottenlarven für den Mauersegler

Während Strege in der Futterküche über die jungen Mauersegler spricht, nimmt eine Kollegin einen der zerbrechlich wirkenden Vögel vorsichtig in die Hand. Der Kleine macht keinen Mucks. Still, mit weit aufgerissenen Augen, wartet er ab, was passiert. Dann öffnet die Tierpflegerin mit zwei Fingern den winzigen Schnabel und schiebt dem Nestling mithilfe einer Pinzette eine weiße Wachsmottenlarve in den Schlund. Danach noch eine und noch eine. Die jungen Vögel scheinen fast unersättlich. „Manchmal füttern wir auch Heimchen, also kleine Grillen“, sagt sie.

„Mauersegler sind häufig Hitzeopfer“, erklärt Strege den Grund, weshalb diese Jungvögel nun mit der Hand aufgezogen werden müssen. Die von Mai bis Juli brütenden Altvögel bauen ihre Nester gerne an den Wänden von Häusern und dort nicht selten direkt unter dem Dach. „Wenn es draußen 35 Grad heiß ist, können dort leicht Temperaturen von 50 Grad herrschen“, erklärt die Tierpflegerin. In der Folge erleiden die Nestlinge entweder einen Hitzschlag und sterben oder lassen sich in ihrer Not in die Tiefe fallen.

Rund 1200 Vögel, sagt Schmidt-Rothmund, werden jedes Jahr im Nabu-Vogelschutzzentrum abgeliefert. „Davon retten wir zwischen 400 und 500 Individuen.“ Die hohe Sterblichkeitsrate ist dem Umstand geschuldet, dass bei Vögeln auch schwerste Verletzungen, gebrochene Beine oder Flügel für Laien nicht leicht erkennbar sind. Klaffende Wunden können sich unter dem Gefieder verbergen, sagt Schmidt Rothmund. „Solche Fälle gibt es häufig.“ Ist der Vogel dem Tod geweiht, müsse er von seiner Qual erlöst werden.

Die Gänsesäger werden bald ausgewildert

In einer der vielen Volieren der Anlage hüpfen einige scheue und hierzulande seltene Gänsesäger aufgeregt umher. Sie wurden als Küken in einer Biberacher Tiefgarage gefunden. Die Tierpflegerin hat einen Eimer frischer Fische dabei, was neben den ungebetenen Gästen, die Aufregung unter den Vögeln erklärt. Gänsesäger waren über zwei Jahrzehnte lang als Brutvögel in Baden-Württemberg bereits verschwunden, seit den 1990er Jahren stabilisiert sich die Population wieder. Strege erzählt, dass die jungen Wasservögel bald bereit seien, ausgewildert zu werden.

Nebenan sitzt ein Rotmilan in seiner Voliere seelenruhig auf einem Ast. Auf die Frage, was diesem Jungvogel, der äußerlich keine Verletzungen aufzuweisen scheint, fehlt, gibt Rebecca Strege eine überraschende Antwort: „Gar nichts. Er wurde zu uns gebracht, weil er zahm ist.“ Der Greifvogel wurde möglicherweise mit der Hand aufgezogen. Nun ist für ihn sein Zutrauen zum Menschen zum Problem geworden. Der Milan muss mühsam resozialisiert werden, um in der Natur überleben zu können. Ein Artgenosse, mit dem er die Voliere teilt, könnte dabei helfen. „Eine Frau hat den Vogel in ihrem Garten in Tübingen gefunden“, erzählt Strege. Weil der Rotmilan partout nicht wegfliegen wollte, dachte die Finderin, er sei möglicherweise verletzt. Tatsächlich war der Vogel nur abgemagert, weil er nie gelernt hatte, wie er sich selbst mit Nahrung versorgt. Ob er je wieder ausgewildert werden kann, ist völlig offen.

Neben den hierzulande häufig vorkommenden Bussarden, die immer wieder Opfer von Zusammenstößen mit Fahrzeugen werden, erreichen die Mössinger Vogelschützer am häufigsten solche Vögel, die von Natur aus in der Nähe des Menschen leben: Amsel, Sperling oder Hausrotschwanz zum Beispiel. Einer dieser kleinen Spatzen schlingert an diesem Tag, mit nur einem Flügel schlagend, durch seinen Käfig und scheint dabei immer wieder über seine eigenen Beine zu stolpern.

Haussperling mit Schädelhirntrauma

„Das ist unser gehbehinderter Haussperling“, erklärt Strege. Der Vogel muss nach einem schweren Schädelhirntrauma erst wieder lernen, auf seinen zwei dünnen Beinen zu gehen. Solche Nervenschäden entstünden oft, sagt die Tierpflegerin, wenn Vögel mit Fensterscheiben kollidieren. „Der Haussperling kam mit zwei komplett gelähmten Beinen zu uns.“ Seit drei Wochen arbeitet sich der Vogel nun wieder mühsam ins Vogelleben zurück. Inzwischen könne er wenigstens wieder stehen. Die Regeneration solcher Nervenschäden, die manchmal durch Einblutungen im Gehirn entstehen, kann mitunter sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, erklärt die Vogelexpertin. Aber es könne auch passieren, dass der Vogel nie mehr gehen kann. „Eine Auswilderung ist dann unmöglich.“

Dass bei Weitem nicht alle Vögel, die jetzt im Sommer hilflos erscheinen oder flugunfähig auf dem Erdboden von Stelle zu Stelle hüpfen, auch gerettet werden müssen, darauf weist Daniel Schmidt-Rothmund immer wieder hin: „Die allermeisten Jungvögel werden auch außerhalb ihres Nests noch von ihren Eltern versorgt. Genau solche Verhaltensweisen verstehen viele Menschen heute nicht mehr.“

„Jungvögel dort lassen, wo sie sind“

Die Folge ist, dass Vögel, die gar keine Hilfe benötigen, häufig trotzdem eingesammelt und in der Auffangstation abgegeben werden. Eine Hauptaufgabe des Vogelschutzzentrums, sagt Schmidt-Rothmund, sei deshalb neben der Vogelpflege die Beratung derjenigen, die Vögel fälschlicherweise einsammeln oder das Zentrum einfach besuchen. „Mein Appell“, sagt der Biologe, „Jungvögel dort lassen, wo sie sind. Niemand kann sie so gut aufziehen wie ihre Eltern.“

„Ob ein wild lebender Vogel gerettet werden sollte oder nicht, ist letztlich immer eine Gratwanderung“, gibt der Ornithologe zu bedenken. Der Tod eines Tieres sei ein natürlicher Prozess, Aas immer auch zugleich Nahrung für andere Tiere. „Es gibt deshalb auch Momente, in denen es vielleicht besser wäre, einen schwer verletzten Vogel natürlich sterben zu lassen.“

Weitere Themen

Weitere Artikel zu Reportage Mössingen