Der Dieselskandal bei Volkswagen sorgt seit Monaten für Furore. Dabei verdeckt die Diskussion um die Abgaswerte die wahren Sorgen des Wolfsburger Unternehmens. Denn die Probleme liegen viel tiefer.

Wolfsburg/Stuttgart - Man hätte ins Träumen geraten können bei dem, was Volkswagen-Chef Matthias Müller vor wenigen Tagen in Wolfsburg vor Journalisten zum Besten gab. Klar, da sei der Dieselskandal, bei dem „Regeln gebrochen“ und „Grenzen überschritten“ worden seien, sagte der 62-jährige Top-Manager. Aber eigentlich sei der Wolfsburger Konzern ein „starkes, quicklebendiges Unternehmen“, das mit seinen Produkten eine „ungebrochene Faszination“ auf seine Kunden ausübe. Die Ertragskraft sei über den gesamten Konzern „solide“, das operative Geschäft „kerngesund“. „Starke Marken mit Historie – und mit faszinierenden Produkten, die technologisch den Weg in die Zukunft weisen: Das ist der Volkswagen-Konzern“, so Müller.

 

Tatsächlich stellt sich die Lage bei Europas größtem Autobauer nach Meinung von Experten anders dar – und das nicht nur wegen des Dieselskandals um manipulierte Abgaswerte, der dem Konzern im vergangenen Geschäftsjahr aufgrund von Milliardenabschreibungen den größten Verlust der Firmengeschichte eingebrockt hat. Die Produktivität in Teilen des Unternehmens, das weltweit rund 600 000 Mitarbeiter beschäftigt, liegt massiv unter dem Branchendurchschnitt. Die Erträge aus dem angestammten Fahrzeugbau sprudeln lange nicht so üppig, wie es – die Belastungen durch den Dieselskandal außen vor gelassen – scheint, und bei neuen Antrieben und Zukunftstechnologien machen andere Hersteller das Rennen.

Eine Studie des Center of Automotive Research (CAR) der Universität Duisburg-Essen, die unserer Zeitung exklusiv vorliegt, kommt zu dem Schluss, dass die aktuellen Belastungen durch den Abgasskandal die wahren Probleme des Wolfsburger Unternehmens eigentlich nur verdecken. „Nicht der Abgasskandal stellt die größte Zukunftsbelastung dar, sondern die chronische Ertragsschwäche der Kernmarke VW-Pkw“, schreibt Studienautor und Leiter des CAR, Ferdinand Dudenhöffer in seiner Kurzstudie zum Thema VW.

Die Werke von VW in Deutschland produzieren zu hohen Kosten

Die Erkenntnis ist nicht ganz neu. Seit Jahren legen Analysten und Aktionärsschützer den Finger in die Wunde. Insbesondere Privilegien und Pfründe in der rund 114 000 Mitarbeiter umfassenden Volkswagen-Stammbelegschaft würden sich für den gesamten Konzern zu einer immer schwieriger zu verkraftenden Belastung entwickeln.

Um das zu belegen, führt Dudenhöffer nun Zahlen an. Demnach sind selbst Automobilhersteller, denen aus deutscher Perspektive das Attribut „Premium“ nicht im entferntesten anhaftet, dem Wolfsburger Zwölf-Marken-Konzern in Sachen Ertragskraft weit enteilt. Pro Fahrzeug verdiente die Marke VW im Pkw-Geschäft 2015 nach CAR-Daten nur 475 Euro. Beim Erzrivalen Toyota waren es 1862 Euro und bei Ford knapp 1200 Euro. Selbst bei dem in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise insolvent gegangenen US-Automobil-Giganten General Motors (GM) springen nach CAR-Berechnungen wieder gut 900 Euro pro Fahrzeug heraus – rund das Doppelte wie bei der Wolfsburger Konkurrenz. Auch die Tatsache, dass Dudenhöffer in seiner Rechnung die profitable Finanzdienstleistungssparte sowie das China-Geschäft des Wolfsburger Konzerns ausblendet, ändert das Bild nicht grundsätzlich. „Das Problem sitzt bei der Kernmarke VW-Pkw“, urteilt Dudenhöffer – und insbesondere bei den zu hohen Kosten der deutschen Werke.

Hier laufen an sieben deutschen Standorten Klassiker wie der Golf und der Passat, aber auch neuere Modellfamilien wie der Touran, der leichte Geländewagen Tiguan oder der Pick-up Amarok sowie wichtige Komponenten vom Band. In den jeweiligen Werken stünden „Produktivität und Profitabilität“ in keinem Verhältnis. Die Personalkosten in den VW-Stammwerken lägen deutlich über jenen vergleichbarer Konzerne, wie etwa des Zulieferers Continental. Selbst Audi mit seinen Fabriken in Bayern und Baden-Württemberg käme besser weg.

Haustarifvertrag mit Vergünstigungen

Tatsächlich genießen die VW-Mitarbeiter in den westdeutschen Werken erhebliche Vergünstigungen – auch gegenüber den übrigen Angestellten im Konzern. Während die Konkurrenz von Daimler und BMW, aber auch die in Süddeutschland ansässigen Konzerntöchter ihre Mitarbeiter nach IG-Metall-Tarif bezahlen, bekommt die VW-Stammbelegschaft „eine Sahnehaube“ obendrauf, wie Spötter meinen. Die Entgelte des Haustarifs liegen über dem für Niedersachsen gültigen Niveau des Flächentarifvertrags. Dazu kommt eine traditionell üppige Gewinnbeteiligung, die in Folge des Abgasskandals für 2015 aber deutlich geringer ausfallen wird.

Zudem hat es VW in den vergangenen Jahren vermieden, Teile der Produktion auszulagern. Während die Konkurrenz immer mehr Wertschöpfung fremdvergeben hat – vom Sitz über die Innenausstattung bis zum Getriebe – macht VW viel selbst. „Zu viel“, meinen Fachleute. „Die Fertigungstiefe bei VW ist enorm“, sagt beispielsweise Gerhard Wolf, Leiter der Gruppe Automobil und Maschinenbau im Analysten-Team der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Produziert werde „oft zu hohen Kosten“. Laut Dudenhöffer fallen Standortentscheidungen im Wolfsburger Konzernreich zudem nicht immer nach Kostengesichtspunkten. „Prestige-Projekte“ wie die Gläserne Manufaktur in Dresden, in der jüngst der letzte Phaeton vom Band lief, oder politische Einflussnahme auf Investitionen führten dazu, dass das Kerngeschäft wie „einbetoniert in der Produktivitätsfalle“ stecke. Dabei gereicht den Wolfsburgern zum Nachteil, dass sie politische Interessen immer mitberücksichtigen müssen. Aus historischen Gründen hält das Land Niedersachsen rund 20 Prozent der VW-Stammaktien und stellt zudem zwei Aufsichtsräte im Konzern. Zusammen mit den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat verfügen sie über die Macht, den Standortinteressen zuwiderlaufende Entscheidungen abzubügeln. Mit Blick auf die Machtverhältnisse im VW-Konzern-Aufsichtsrat spricht Dudenhöffer von einer „Art unheiliger Allianz“ die sich über die Jahre in Wolfsburg herausgebildet hätte.

Allerdings: Der im Juli vergangenen Jahres an die Spitze der Marke VW gewechselte Ex-BMW-Manager Herbert Diess hat in den ersten Monaten seiner Amtszeit klar gemacht, dem Kostenthema mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Der Sparkurs soll nun verschärft werden, im Gegenzug für Investitionen sollen feste Produkt- und Stückzahlen für die nächsten Jahre festgeschrieben werden.

Ob dies die Lage nachhaltig ändern kann, lässt Dudenhöffer offen. Das Risiko für den Konzern aus dem „Einmalproblem“ des Dieselskandals sei deutlich geringer als jene Unsicherheiten, die aus dem „chronischen“ Kostenproblem entstünden.