Was für eine ungewöhnliche Geschichte: Markus Deibler war ein erfolgreicher Schwimmer – und verkauft jetzt noch erfolgreicher Eis auf St. Pauli.

Hamburg - I

 

m Moment läuft Karamell-Meersalz besonders gut. Auch Cheesecake-Himbeer wird gern genommen, 1,20 Euro die Kugel. Und wenn das Wetter bald noch schöner wird, wollen die Leute wieder eher Zitrone-Basilikum oder Kokossorbet. „Alles hausgemacht“, sagt Markus Deibler: „Ohne künstliche Aromen, Farbstoffe oder Fertigmischungen.“

Es ist ein Montagvormittag im März, Markus Deibler, 26 Jahre alt, steht in seiner Eisdiele Luicella’s, ein paar Tage vorher hat er sie eröffnet. Hamburg, St.-Georg, Lange Reihe, Trendviertel, daneben Biogeschäfte und das Tattoostudio „Himmel und Hölle“. Es ist sein zweiter Laden, der andere ist drüben auf St. Pauli, Seitenstraße der Reeperbahn. Nachher wird er zur Gastromesse am Dammtor fahren; und wenn die Zeit reicht, schaut er gegen später auch noch in Ratzeburg vorbei, dort befindet sich die Eismanufaktur. Er arbeitet derzeit zwölf Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. „Ganz schön viel“, sagt Markus Deibler.

Aber immer noch besser, als jeden Tag stundenlang im Hallenbad zu schwimmen.

Es ist noch nicht lange her, da war Markus Deibler, geboren und aufgewachsen in Biberach/Riß, einer der besten und talentiertesten Schwimmer Deutschlands, er war einer der besten der Welt. Ein Ausnahmeathlet. Die Liste seiner Erfolge bei Wikipedia ist seitenlang, der größte steht ganz unten: Goldmedaille bei der Kurzbahn-Weltmeisterschaft in Doha über 100 Meter Lagen in 50,66 Sekunden – Weltrekord.

Am 7. Dezember 2014 war das.

Neun Tage später tippte er eine Nachricht auf seine Facebook-Seite. Der erste Satz lautete: „Ich habe mich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, meine Karriere im Leistungssport zu beenden.“ Kurz darauf fuhr Markus Deibler in den Urlaub nach Sri Lanka – „zum Chillen“.

Rücktritt mit 24. Ohne jegliche Vorwarnung. Auf dem Höhepunkt der Karriere, der nur ein vorläufiger zu sein schien, eine Zwischenstation. Das Beste würde noch kommen, bei den Olympischen Spielen in Rio in diesem Sommer oder anderswo, davon waren alle überzeugt. Und fragten sich: warum bloß? Die Antwort ist simpel. Weil Markus Deibler keine Lust mehr hatte. Weil er keinen Sinn mehr darin sah, jeden Tag irgendwelche Trainingspläne abzuarbeiten. Weil er ein freier Mann sein wollte, der ein selbst bestimmtes Leben führt.

Niemand hat ihn gezwungen zu schwimmen, er hat es immer gern gemacht. Er ging den klassischen Karriereweg: mit fünf der erste Schwimmkurs, mit zehn schon viermal in der Woche Training. Bald schwimmt er jeden Tag, frühmorgens vor der Schule und oft auch danach. Nach dem Abitur Wechsel nach Hamburg, Studium des Wirtschaftsingenieurwesens, vor allem aber: Training. Training. Training. Am Ende sind es pro Woche zehn Einheiten im Wasser, fünf an Land. Physiotherapie, Mentaltraining, Krafttraining, das ganze Programm. Berufsalltag im Spitzensport.

Es hat ihm lange Zeit Spaß bereitet, das Leben als Leistungssportler, „lustige Sache, alles cool“. Das Gemeinschaftsgefühl im Trainingslager, das Kribbeln bei den Wettkämpfen, die vielen Reisen mit den Schwimmerkollegen quer um die Welt. „Ich habe das früher nie in Frage gestellt“, sagt Markus Deibler. In den Sommerferien 2014 aber merkte er zum ersten Mal, dass es anders ist, dass er sich zwingen musste, wieder ins Wasser zu springen. Das Training fiel ihm schwerer, nun stellte er sich die Sinnfrage, begann zu zweifeln – und zog im Dezember die Konsequenz. Es gab keinen, der ernsthaft versucht hätte, ihn umzustimmen. Denn jeder wusste: „Das hätte keine Aussicht auf Erfolg gehabt“, sagt Deibler. „Ich mache nicht so gern halbe Sachen. Entweder richtig – oder gar nicht.“ Motivation von außen gibt es im Schwimmen nicht. „Man kann damit in Deutschland nicht reich und berühmt werden. Man macht es nur für sich“, sagt Deibler. Ein paar hundert Euro gibt es vom Verein, ein paar hundert von der Sporthilfe, im Idealfall steuern Sponsoren etwas dazu. Nichts im Vergleich zu dem, was die Kollegen aus den USA oder Australien bekommen, aber auch die aus Frankreich oder Italien.

Trotzdem war das Jammern in Deutschland immer groß, wenn die eigenen Athleten bei Olympia hinterher geschwommen sind. Markus Deibler hat es selbst erlebt, 2008 in Peking und 2012 in London, als er über 200 Meter Lagen das Finale erreichte, gemeinsam mit den US-Superstars Michael Phelps und Ryan Lochte. Sein achter Platz war für ihn ein Riesenerfolg, in der Heimat war er bestenfalls eine Randnotiz. „Wie sollen wir unter die besten Drei kommen, wenn wir in der Förderung nur 35. sind? Das funktioniert nicht“, sagt Deibler.

Unter diesen Bedingungen sah er keinen Sinn mehr, sich weiter zu quälen und von etwas zu träumen, das ihn am Ende doch nicht wirklich weiterbringt. Markus Deibler weiß, dass sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft war, dass er noch schneller hätte werden können. Aber selbst wenn ihm damals im Dezember 2014 jemand eine Medaille in Rio garantiert hätte – sein Entschluss wäre der gleiche geblieben. Er fragt: „Was habe ich von einer Medaille, wenn ich dafür zwei Jahre meines Lebens auf den Müll werfe?“

Markus Deibler lebt seither allein nach seinen Vorstellungen. In den ersten Monaten nach dem Rücktritt musste er sich zwingen, abzutrainieren, er fuhr Mountainbike, weil er zum Schwimmen überhaupt keine Lust mehr hatte. Ansonsten tat er all die Dinge, auf die er bis dahin immer verzichten musste: Feiern, trinken, ungesunde Sachen essen, Ausgehen bis zum Morgengrauen. Er nahm ordentlich zu, statt 97 Klio wog der 1,97-Meter-Hüne plötzlich 107. „Okay, es hat Spaß gemacht, aber jetzt reichts“, sagte er sich nach einem knappen Jahr. Dann ging’s wieder ins andere Extrem – keine halben Sachen auch jetzt. Er unterzog sich einer strengen Diät ohne Kohlenhydrate, machte exzessives Krafttraining. Seit März wiegt er wieder zweistellig und er fühlt sich „stärker als bei der WM“. Gewaltige Muskelberge wölben sich unter dem T-Shirt, er hat die Figur eines Modellathleten. Gelegentlich schwimmt Markus Deibler auch wieder. Neulich half er seinem Hamburger Verein bei Mannschaftsmeisterschaften aus – und war zweimal schneller als Paul Biedermann. Über 100 Meter Schmetterling verbesserte der Schwimmrentner sogar seinen persönlichen Rekord und fand eine einfache Erklärung:. „Ich bin halt jetzt gut ausgeruht.“

Vor allem aber kümmert sich Markus Deibler ums Speiseeis-Geschäft, in das er schon als Schwimmer eingestiegen war. Im März 2013 eröffnete er zusammen mit einer Freundin die erste Eisdiele auf St. Pauli, seit seinem Rücktritt ist er Fulltime-Unternehmer. Das Luicella-Eis gibt es inzwischen nicht nur in der zweiten Filliale in St. Georg, sondern längst auch in Cafés und ausgewählten Supermärkten; Deibler und seine Partnerin beschäftigen mittlerweile einen Festangestellten und haben 20 Aushilfen, das Geschäft floriert.

Verworfen hat er daher die Idee, im Sommer nach Rio zu reisen, als Olympiatourist und Unterstützer seines Bruders Steffen, der zweieinhalb Jahre älter ist und noch nicht ans Aufhören gedacht hat. Im August hat das Speiseeis Hochkonjunktur. Markus Deibler muss dann viel arbeiten – und fühlt sich trotzdem als freier Mann.