Vor 30 Jahren stach Günter Parche beim Tennisturnier in Hamburg Monica Seles nieder, aus Liebe zu Steffi Graf. Paul Zimmer aus Stuttgart hat alles fotografiert – der Moment wirkt bis heute bei ihm nach.

Bei Paul Zimmer surrt das Handy. „L’Equipe“ ist dran, die große Sportzeitung aus Paris. „Bonjour, Monsieur Zimmer“, grüßt der Franzose – und noch bevor er erklärt, was er will, weiß es Monsieur Zimmer schon.

 

„Ja“, nickt er ins Telefon, „ich war dabei.“

Zimmer lebt in Stuttgart-Sillenbuch, als bodenständiger Schwabe, ist aber in Wirklichkeit ein Tennisfotograf von Welt. Als solcher bekommt er zurzeit viele Anrufe. Alle wollen wissen, wie es war. Und dann erzählt er ihnen von diesem grausamen Ereignis, das sich jetzt zum 30. Mal jährt – und das in den Geschichtsbüchern rot angekreuzt ist als der Tag, an dem der Sport zum Kampf bis aufs Messer wurde.

Zimmer war Augenzeuge, und das Auge seiner Kamera hat vollends den Rest festgehalten. Durch diese Vergangenheit wühlt er sich gerade, als wir ihn treffen. Ein Haufen alter Fotos liegt im Büro auf dem Tisch. Es ist ein halbes Leben her, dass er sie geschossen hat, und alle am selben Tag. Furchtbare Fotos. Ein furchtbarer Tag.

Ein Attentat.

Fratzen. Schock. Entsetzen. Empörung

Man sieht auf diesen Fotos Menschen in Panik. Und Gesichter, die verzerrt sind zu Fratzen. Schock. Entsetzen. Empörung. Sicherheitsleute stürzen sich auf den Mann mit dem Messer. Dessen Blick ist wirr, die Haare zerzaust, sie werfen sich über ihn, packen ihn an der Gurgel, überwältigen ihn und schleppen ihn weg. Auf anderen Fotos beugt sich ein Arzt über das Opfer, tastet die Stichwunde am Rücken ab, das Hemd des Opfers ist rot durchtränkt, überall Blut.

Jeder Moment ist in Zimmer noch präsent, „als ob es gestern war“. Die Bilder verfolgen ihn, sie lassen ihn nicht los, sie sind eingebrannt in seinen Kopf und digitalisiert im Archiv, oder sie liegen jetzt in Form von Hochglanzpapier auf dem Tisch. Alles hat er im Tohuwabohu des Wahnsinns fotografiert – sogar die Uhr auf dem Centre-Court.

„18.55 Uhr“, sagt Zimmer.

Der 30. April 1993. Ein Freitag. Es ist fünf vor sieben, als das Wunderkind Monica Seles, 19 Jahre jung und die Nummer eins der Tenniswelt, beim Turnier am Hamburger Rothenbaum in ihrem Spiel gegen die Bulgarin Magdalena Malejewa auf ihrem Pausenstuhl sitzt. Hinter ihr, ein paar Meter weiter, sitzt Zimmer, er hat einen guten Platz, wie es sich für einen Meister gehört. Als enger Wegbegleiter von Steffi Graf und Boris Becker hat der Stuttgarter in den 1980ern seine eigene steile Karriere hingelegt, mit Preisen und Orden, sogar mit dem AIPS-„Weltfoto des Jahres“ hat man ihn dekoriert. Alles hat Zimmer schon erlebt.

Nur nicht das, was jetzt kommt: Ein Zuschauer steuert auf den Pausenstuhl des Wunderkinds zu.

Zimmer: „Ich dachte: Will der Spinner ein Autogramm?“

Der Spinner will keine Widmung

Aber der Spinner will keine Widmung fürs Poesiealbum. Nicht einmal der Bekloppteste unter denen, die nicht mehr alle Tassen im Schrank haben, würde auf die Idee kommen, der besten Spielerin der Welt auf dem Pausenstuhl geschwind einen Notizblock und einen Kuli in die Hand zu drücken. Stattdessen kommt es zu dieser gespenstischen, unwirklichen Szene. Zimmer: „Plötzlich beugt der Kerl sich über sie und stößt zu.“ Ein Messer. Er rammt es der Jugoslawin in den Rücken. Den Rest erzählen Zimmers Fotos. Das Chaos. Die Schreie. Das Blut. Der Rettungswagen zum Krankenhaus. Und wie der Wirrkopf von den Sicherheitsleuten weggetragen wird, wild strampelnd, erinnert sich Zimmer, „an allen vieren, wie ein widerspenstiger Hund“.

„Ich bin ein Fan von Steffi“, sagt der Attentäter beim Verhör – und dass er deren schlimmste Widersacherin außer Gefecht setzen wollte, aus Liebe.

Günter Parche ist 38 und ein gelernter Dreher aus Thüringen, aber jetzt ist er arbeitslos und Gelegenheitsarbeiter, und Steffi Graf ist das Objekt seiner Besessenheit. Wann immer sie verliert, bricht eine Welt in ihm zusammen. Nach ihrer Niederlage gegen das neue Wunderkind Seles bei den German Open 1990 trägt er sich angeblich mit Selbstmordgedanken, und als die Frau seiner Träume 1991 auch noch den Thron als Weltbeste an die Nebenbuhlerin verliert, schlägt seine Depression um in Aggression – und der fanatische Fan wird zur Zeitbombe.

Eine verletzte, verwirrte, verunsicherte junge Frau

Immer wieder geraten Tennisköniginnen zu der Zeit ins Fadenkreuz von Anbetern, in deren Köpfen das Vögelchen der verirrten Leidenschaft zwitschert. Anna Kournikova und Martina Hingis müssen sich gegen diesen Terror gerichtlich wehren, andere werden in den schwarzen Humor getrieben. Als die Deutsche Anke Huber in ihrem Briefkasten regelmäßig Reizwäsche findet und sich der aufdringliche Verehrer schließlich zu erkennen gibt, verrät sie: „Der Verrückte von Steffi ist hübscher als meiner.“

Monica Seles überlebt das Attentat. Aber sie ist nicht mehr der unbekümmerte Teenager, die kichernde Göre und Quasselstrippe, sondern eine verletzte, verwirrte, verunsicherte junge Frau. Während ihrer zweijährigen Zwangspause wirkt sie verbittert, fühlt sich ihrer Krone beraubt und sagt über Steffi Graf ein paar uncharmante Dinge. Gleichzeitig bedauert sie, „dass wir die Unbefangenheit im Umgang miteinander verlieren“. Steffi Graf verliert die Unbefangenheit vorübergehend komplett. Sie wird in Abwesenheit der Rivalin zwar schnell wieder zur Nummer eins, aber nach ihren Siegen öffnet sie ihren Pferdeschwanz, kämmt sich das offene Haar wie eine Jalousie ins Gesicht und lässt den Rollladen ihres Innersten herunter. Sie ist erleichtert, als Monica Seles nach zwei Jahren aus ihren posttraumatischen und depressiven Verstimmungen zurückkehrt und ihr Comeback gibt. Aber Seles ist nicht mehr die Alte. „Dieser Mann“, sagt sie am Ende bitter, „hat sein Ziel erreicht.“

Dem Attentäter Parche bescheinigt das Gericht eine „hochabnorme Persönlichkeitsstruktur“ und eingeschränkte Steuerungsfähigkeit. Aufgrund verminderter Schuldfähigkeit wird er wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Er lebt dann unauffällig in seiner Thüringer Heimat. In einem Pflegeheim in Nordhausen ist er vergangenes Jahr gestorben, und solange ihm jemand zugehört hat, soll er gelegentlich gesagt haben: „Ich wollte doch nur Steffi helfen.“ Stattdessen hat er sie in die innere Emigration getrieben. Sie spielte und siegte, aber sie litt.

Tat eines Wahnsinnigen

„Für Steffi war es grauenhaft“, weiß Paul Zimmer, „sie stand da wie die Profiteurin dieser Tat eines Wahnsinnigen.“

Während sie den Wahnsinnigen abends gegen sieben vom Centre-Court zum Verhör und das Opfer ins Krankenhaus fahren, fährt Paul Zimmer mit der Kamera um den Hals zügig ins Axel-Springer-Verlagshaus und bittet dort händeringend um eine kurzfristige Benutzungserlaubnis für das Fotolabor. Kurz nach acht, eine Stunde nach dem Attentat, ist der Film entwickelt, und die „Welt am Sonntag“ greift bei den Fotos sofort zu. Der „Stern“ klopft an, die großen Magazine, und noch am Abend meldet sich die „Times“ aus New York. Woher habt ihr meine Nummer, fragt Zimmer den US-Kollegen. „Von Ihrer Mutter“, sagt der Ami. Auch er steht unter Stress. Er braucht dringend diese Fotos, sonst wird er gefeuert, und irgendwann hat Mutter Zimmer Mitleid und gibt ihm die Nummer von ihrem Paul.

„Es war wirklich ein harter Tag“, erinnert sich Paul Zimmer – dieser schwarze Freitag vor 30 Jahren.