Im Herbst und Winter droht dem Gesundheitssystem wieder eine Belastungsprobe durch Atemwegsinfektionen. Neue Corona-Varianten bereiten Virologen und Medizinern dagegen bis jetzt keine größeren Sorgen.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Viele beobachten derzeit in ihrem Umfeld wieder mehr Corona-Ansteckungen. Auch Mediziner berichten von einer leichten Zunahme der Infektionen. Wie sieht es momentan aus, und was ist im Herbst und Winter zu erwarten? Wir beantworten wichtige Fragen dazu.

 

Wie ist die aktuelle Lage? Verglichen mit den Pandemiejahren bewegt sich das Infektionsgeschehen weiter auf niedrigem Niveau. Da sich viele nicht mehr testen, ist aber davon auszugehen, dass die tatsächlichen Coronazahlen deutlich über den offiziell erfassten liegen. Aktuell gibt das Robert-Koch-Institut (RKI) eine Sieben-Tage-Inzidenz von sechs Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner und Woche an. In den letzten Wochen habe es wieder etwas mehr Infektionen bei Patienten und Mitarbeitern gegeben, berichtet Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Insgesamt ist die Situation im Moment aber stabil.“ Deutschlandweit würden aktuell gut 180 Patienten mit Corona auf Intensivstationen behandelt – etliche davon mit Lungenentzündungen in Verbindung mit einer Sars-Cov2-Infektion. Das sei nur rund ein Prozent aller Intensivpatienten.

Was weiß man über die neuen Virusvarianten? Der jüngste Zugang in der langen Liste der Coronavarianten trägt das Kürzel BA.2.86 und den Spitznamen Pirola. Die Variante zeichnet sich gegenüber den bislang dominierenden Omikron-Verwandten durch eine relativ hohe Zahl von 30 Erbgutveränderungen aus. Pirola könnte daher die bestehende Immunität gegen bisherige Varianten leichter unterlaufen. Allerdings sei es für eine Beurteilung noch zu früh, sagt Sandra Ciesek. Wegen der geringen Fallzahl gebe es kaum Daten zu Übertragbarkeit und Krankheitsschwere, meint die Leiterin des Instituts für medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt.

Dass BA.2.86 in Deutschland bis jetzt noch nicht gefunden wurde, heiße nicht, dass die Variante nicht schon hier sei. Hierzulande würden an positiven Proben kaum noch Erbgutanalysen vorgenommen. Über die Variante EG.5, auch Eris genannt, weiß man laut Ciesek schon etwas mehr. Tierversuche deuteten darauf hin, dass sie nicht kränker macht als die länger kursierende Omikron-Variante XBB.1.5. Insgesamt sei sie mit Blick auf die neuen Varianten „relativ entspannt“, so Ciesek.

Wie geht es weiter? Ciesek erwartet im Herbst und Winter eine ähnliche Situation wie im vergangenen Jahr: „Viele werden noch mal eine Corona-Infektion haben.“ Das führe zwar wieder zu Personalausfällen, mache aber keine strengen staatlichen Schutzmaßnahmen erforderlich – jedenfalls solange Omikron-Verwandte das Geschehen dominierten. Auch wenn der Infektionsdruck wieder steige, sei ein Großteil der Bevölkerung durch die vorhandene Grundimmunität recht gut vor schweren Covid-Erkrankungen geschützt, betont der Infektiologe Leif Erik Sander von der Berliner Charité. Dennoch rät er analog zur Stiko-Empfehlung Menschen ab 60 sowie Risikogruppen zur Boosterimpfung mit einem an aktuelle Omikron-Varianten angepassten Impfstoff – insbesondere wenn die letzte Impfung oder Infektion bereits ein Jahr zurückliegt. Studien wiesen darauf hin, dass eine Auffrischung sowohl das Risiko schwerer Erkrankungen als auch von Corona-Spätfolgen verringere. Eine zeitgleiche Grippeimpfung sei ebenfalls ratsam.

Wann kommt der neue Impfstoff? Vom 18. September an soll der angepasste Impfstoff von Biontech in den Praxen verfügbar sein, heißt es im Bundesgesundheitsministerium. Für Herbst und Winter sollen insgesamt 14 Millionen Dosen zur Verfügung stehen. Die Zulassung für das angepasste Moderna-Vakzin steht noch aus.

Wie kann man sich und andere sonst noch schützen? Wie die bisherigen Impfstoffe schützen die angepassten Vakzine zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit vor schweren Verläufen, aber nur eingeschränkt vor Infektionen. Daher halten die Experten zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen weiterhin für sinnvoll. Wer bei sich Krankheitssymptome spüre, solle sicherheitshalber zu Hause bleiben, um andere nicht anzustecken, rät der Mediziner Kluge. Wo viele Menschen auf engem Raum zusammen sind – etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln –, sei in den nächsten Monaten auch das Tragen von Atemmasken sinnvoll. Insbesondere mit einer FFP2-Maske könne man sich sehr gut vor Infektionen schützen, sagt die Virologin Ciesek. Das sei besonders wichtig, wenn man beispielsweise vor einer geplanten Reise oder einer Transplantation nicht krank werden wolle.

Wie ist das Gesundheitssystem aufgestellt? Mehr Sorgen als die neuen Virusvarianten bereitet Kluge und anderen Medizinern der Personalmangel in Kliniken und Praxen. „Aktuell sind 25 Prozent der Betten nicht nutzbar, weil Personal fehlt.“ Schon jetzt seien die Intensivstationen durch andere Erkrankungen gut ausgelastet. „Wenn da im Herbst und Winter noch Covid-Patienten oder Patienten mit anderen Virusinfektionen dazukommen, bekommen wir Probleme.“ Neben einem Anstieg der Corona-Infektionen erwarten Ärzte in der kühlen Jahreszeit auch wieder mehr andere Atemwegsinfektionen. Sander befürchtet deshalb in manchen Regionen wieder Engpässe – insbesondere in Notfall- und Kinderpraxen.

Pandemie drückt Lebenserwartung

Statistik
 Die Lebenserwartung in Deutschland hat sich durch Corona um mehr als ein halbes Jahr verringert. Nach Angaben des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) sank sie 2022 bereits das dritte Jahr in Folge. Bei Männern fiel die Lebenserwartung von 78,7 auf 78,1 Jahre, bei Frauen von 83,5 auf 82,8 Jahre. Im Juli hatte das Statistische Bundesamt bereits einen Rückgang in ähnlicher Größenordnung gemeldet.

Unterschiede
Besonders wenig Lebenszeit verloren Menschen in Baden-Württemberg, wo Männer 2022 statistisch knapp 0,3 Jahre kürzer lebten und Frauen knapp 0,5 Jahre. Auch in Schleswig-Holstein betrug der Rückgang für Männer nur gut 0,4 Jahre, für Frauen indes gut 0,8 Jahre. Schlusslichter sind Sachsen-Anhalt, das Saarland und Thüringen. In Sachsen-Anhalt verloren Frauen ein Jahr und Männer gut 1,2 Jahre. Im Saarland betrug der Rückgang 0,7 Jahre für Frauen und gut ein Jahr für Männer. In Thüringen verloren Männer wie Frauen 0,9 Jahre.