Der Dokumentarfilmer Frederick Wiseman hat schon oft die alltägliche Arbeit großer Institutionen gezeigt. Nun porträtiert er die National Gallery in London.

Stuttgart - Langweilig ist wohl noch keinem bei Sinnen befindlichen Besucher der National Gallery in London geworden. Es war auch noch keiner nach einer halben Stunde durch, mit der Frage „war’s das jetzt schon?“ auf den Lippen. Dieses reich bestückte Museum beherbergt viele Werke, vor denen man Tage zubringen könnte, und so erübrigt sich die Frage, ob der Dokumentarfilmer sich nicht allzu viel  herausnimmt, wenn er sein Werk „National Gallery“ drei Stunden dauern lässt. Auch diese drei Stunden würden nicht reichen, einen erfassbaren Kurzkatalog der reichen Bestände des Hauses zu präsentieren.

 

Der am 1. Januar 85 Jahre alt werdende Amerikaner Frederick Wiseman versucht das gar nicht erst. Er bietet viel mehr als eine Betrachtung von Räumlichkeiten. Er beobachtet das Publikum, lauscht Führungen und bringt uns hinter die Kulissen, wo wir sonst nicht hindürfen, liefert also ein aktuelles Lebensbild der Gallery statt einer Registratur des Angesammelten.

Drei Stunden sind bloß ein Blinzeln

Die Fliege an der Wand zu sein, das war schon immer Wisemans Arbeitsprinzip, der so ziemlich das Gegenteil von Michael Moore darstellt: keine Kommentare, keine Selbstinszenierung, keine Einseitigkeit. Wobei auch Wiseman politisch Brisantes vorgelegt hat. Schon sein Debüt „Titicut Follies“ von 1967 über die Zustände in einer Gefängnispsychiatrie war ein Klassiker der Ausleuchtung dunkler Ecken.

Im Alter frönt Wiseman noch immer seinem Interesse an großen Institutionen, auch wenn es nun Kulturstätten sind. Wir bekommen eine Ahnung von Richtungsstreit, Bestandsangst, politischem und ökonomischem Druck, wenn wir die Arbeitssitzungen belauschen. „National Gallery“ führt uns Zwänge und Gefährdung großer Museen neben der Kunst vor Augen – und drei Stunden vergehen wie ein Blinzeln.

National Gallery. Frankreich, USA 2014. Regie: Frederick Wiseman. Dokumentarfilm. 181 Minuten. Ohne Altersbeschränkung.