Langsam trauen sich die Palästinenser wieder aus ihren Häusern. Doch keiner traut dem Frieden. Das Kalkül der Hamas ging auf: Sie hat wieder an Rückhalt gewonnen.

Gaza - Unter dem umgekippten Minarett der Al-Susi-Moschee sind die größten Trümmerteile von dem Bombenangriff inzwischen beiseitegeräumt. Es hängt quer über der Straße, seine Spitze steckt im zweiten Stock des gegenüber liegenden Wohnhauses. Aber der Taxifahrer fährt darunter durch, ohne von der drohenden Gefahr Notiz zu nehmen. Ein paar Ecken weiter hocken ältere Frauen in Schati, dem Beach-Camp in Gaza-City, erschöpft auf dem Gehsteig, um sich ein wenig in der Meeresbrise zu erholen, die vom Strand her in die offene Gasse weht. Direkt daneben befindet sich der Trümmerhaufen, der von dem Eigenheim übrig geblieben ist, in dem noch vor einem Monat der frühere Hamas-Premier Ismael Hanija mit seiner Großfamilie lebte. Auf den lassen sie nichts kommen. „Der Mann ist ein Goldstück“, meint eine Alte und küsst demonstrativ ihre Fingerspitzen. Dass die Hamas-Führung in unterirdischen Bunkern ausharrte, während palästinensische Normalbürger in ihren Behausungen Todesängste ausstanden, stört sie nicht. „Ihre Kämpfer haben uns doch nur verteidigt“, sagt sie.

 

  Der Krieg ist seit acht Uhr aus. Pünktlich auf die Minute, wie auf ein Kommando hin, haben die israelische Armee und die Militanten der Hamas die Waffen schweigen lassen. Es ist Dienstagnachmittag, Tag eins der Hudna, wie die Palästinenser die Waffenruhe nennen. Und so recht traut noch keiner dem Frieden, ohnehin ein viel zu großes Wort für den  Beginn der Rückkehr zur Normalität. Nur allmählich wachen die Menschen in Gaza aus dem Albtraum auf, dem sie vier Wochen lang ausgesetzt waren und der so viele Leben, an die 2000 insgesamt, ausgelöscht hat.  

Die Menschen atmen durch. Foto: AP

Ganz vorbei ist er auch nicht. Auf einem Trümmerfeld im Schati-Camp, dem Flüchtlingslager in Strandnähe, stochern einige Männer im Schutt. Kleider, einen Teddybär und andere Habseligkeiten ziehen sie daraus hervor. Aber was sie suchen, haben sie noch nicht gefunden: den Kopf der Leiche von Ramadan Kamal al-Braki, den sie irgendwo unter den zerborstenen Betonteilen vermuten. Ihm, einem Anführer des islamischen Dschihad, galt der gezielte Luftangriff vom Vortag, einer der letzten, die Israel verübte, ehe der vorerst auf drei Tage begrenzte Waffenstillstand bekanntgegeben wurde. Sterben mussten deshalb auch seine Frau, drei Kinder und ein Verwandter, die sich ein Stockwerk über Bakri aufgehalten hatten.

  Es war eine gewaltige Explosion. Betonteile regneten im hohen Bogen auf die Nachbarschaft herab und durchschlugen das Asbestdach von Omar al-Manawi zwei Häuser weiter. Dabei hätten die Israelis doch schon am Montag eine siebenstündige humanitäre Feuerpause verkündet, empört sich der 26-Jährige. „Man kann denen eben nicht glauben“, ist er überzeugt, und deshalb halte er auch die neue Hudna für eine zu unsichere Angelegenheit, um seine Kinder draußen spielen zu lassen. Da spricht der besorgte palästinensische Familienvater, und er klingt nicht viele anders als israelische Eltern jenseits von Gaza.

„Ich würde meine Seele für dieses Land hergeben“

Aber das stellt Omar al-Manawi, ein arbeitsloser Bauarbeiter, ebenso klar. „Ich bin für den Widerstand. Ich würde meine Seele und die meiner Kinder für dieses Land hergeben.“   Seine Frau Lina fällt ihm ins Wort. „Ich hoffe, dass es diesmal ein richtiger Waffenstillstand wird. Wir wollen ihn aus ganzem Herzen, zu viele Leute sind umgekommen.“ Doch auch sie gibt die Schuld am Krieg allein Israel und Ägypten, das die Offensive stillschweigend gutgeheißen habe. Erst auf Nachbohren räumt das Ehepaar ein, es vorzuziehen, wenn künftig nicht in unterirdische Tunnelanlagen, sondern in den Wiederaufbau investiert werde.

Ohne Hilfe kommen die Bewohner nicht zurecht. Foto: AP

„Wir setzen dabei auf Mahmud Abbas, unseren Präsidenten, und die Fatah“, sagt al-Manawi. „Es ist besser, wenn sie uns regieren und die Grenze in Rafah kontrollieren. Aber als Widerstandsorganisation brauchen wir die Hamas.“ Wie er „für beide palästinensische Fraktionen zu sein“   wird sich schwer vereinbaren lassen. Aber das palästinensische Verlangen, in nationaler Einheit zusammenzustehen, hat der Krieg noch verstärkt.  

Kaum anders reden Mohammed Magussi (36) und sein Bruder Fadi (25), die unten im Fischerhafen ihre Netze und Boote inspizieren. Es ist das erste Mal, dass sie sich nach endlosen Tagen und Nächten, verbracht in stickigen Wohnungen, wieder her wagen. „Der Krieg hat uns alle erschöpft“, sagt Mohammed Magussi. „Aber wir haben den Bombenangriffe standgehalten. Israel hat uns nicht schlagen können.“ Nur, was haben sie gewonnen angesichts des unentschiedenen Ausgangs? Glaubt er wirklich, dass all die erlittenen tragischen Verluste das wert waren? Selbst die Lagerhallen der Fischer sind teilweise beim Beschuss ausgebrannt. „Uns blieb doch nur als Alternative, hier in diesem abgeschnürten Gaza langsam erdrosselt zu werden“, erwidert Magussi. Und vielleicht würden ja jetzt bei den Waffenstillstandsgesprächen in Kairo eine Öffnung der Grenzen und ein Ende der Seeblockade ausgehandelt. „Wir beten zu Gott, dass das Leben jetzt leichter wird. Wir wollen endlich wieder weit raus aufs Meer fahren, um einen guten Fang zu machen.“ Wer überleben will, kann es sich nicht leisten, auf bessere Zeiten zu warten. Mittwochmorgen, kurz nach Sonnenaufgang, klettern wie all die anderen Gaza-Fischer auch die Brüder Magussi in ihr altes Motorboot, um in Küstennähe wenigstens einige kleine Fische aus dem seichten Wasser zu holen, die sie verkaufen können.  „Die Menschen beginnen, die UN-Schutzräume zu verlassen“, sagt der Sprecher des UN-Palästinenserhilfswerks, Chris Gunness. Mit 267 970 Flüchtlingen in 90 UN-Schutzräumen sei „zum ersten Mal ein leichter Rückgang der Zahlen“ zu verzeichnen.

An manchen Stellen ist die Zerstörung ohne Beispiel. Foto: AP

Hunderttausende hat es schlimmer getroffen. Zum Beispiel in Schadschaija, dort ist nichts mehr wie vor dem Krieg. Schneisen der Verwüstung ziehen sich durch das östliche Viertel von Gaza-City. In der Barded-Straße steht links und rechts kein einziges Haus mehr, das nicht mit Einschussnarben übersät ist. Dazwischen klaffen riesige Lücken – Trümmerfelder und groteske Ruinen, aus denen Betonböden wie heruntergerutschte Tischdecken hängen. Wie viele Palästinenser dort starben, weiß keiner genau. Die verschütteten Toten konnten noch nicht alle geborgen werden.

Häuser werden zu Friedhöfen

Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) hält sich im Gazastreifen auf, um sich ein Bild von den Zerstörungen und der Lage der Verletzten zu machen. „Ich habe noch nie so massive Zerstörungen gesehen“, teilt Peter Maurer am Dienstag nach einem Besuch des Viertels Schadschaija per Twitter mit. „Ich habe ein tiefes Gefühl des Schocks darüber, was ich gesehen habe, und der Wut, dass wir nicht verhindern konnten, was passiert ist.“ Schadschaija war tagelang Frontgebiet während der israelischen Bodenoffensive. Auch die Familie des Onkels von Omar Abu Schanab wird noch vermisst. Der 28-Jährige weist stumm auf ein völlig eingesacktes Haus, das, wie er vermutet, „zu ihrem Friedhof wurde“.

  Das ganze Ausmaß der Zerstörung sieht auch Abu Schanab zum ersten Mal. „Ich bin geschockt“, gesteht er, „dabei haben wir noch Glück, wir leben.“ Er hatte mit seiner Frau und drei Kindern in einem hinteren Raum gekauert, als ein Geschoss in sein Schlafzimmer einschlug. „Schaut selbst“, sagt er und führt in seine halbzerstörte Wohnung im ersten Stock eines Apartmentgebäudes an der Barded-Straße. Das Bett ist übersät mit Fenstersplittern und Wandsteinen. Überlebt haben er und die Seinen nur, weil das Rote Kreuz sie mit hundert anderen Bewohnern während einer Feuerpause aus dem Kampfgebiet evakuierte und in UN-Schulen einquartierte.   Abu Schanab ist ein Mann der gemäßigten Fatah und war früher Polizist im Dienste von Abbas. Wer ihn hört, vermutet ihn ihm eher einen Radikalen.

Die Saat des Hasses geht schon auf

„Dieser Krieg hat uns gelehrt, dass wir nur einen Feind haben, Israel“, sagt er mit düsterem Blick. Das Konzept der Hamas scheint aufgegangen zu sein. Die militärische Konfrontation hat ihr ungeahnte Sympathien verschafft, sogar unter jenen Palästinensern, die lange an Friedensverhandlungen geglaubt haben.   „Abbas hat doch nichts in all seinen Gesprächen erreicht“, sagt Abu Schanab. „Er hat nur noch eine Chance, wenn er jetzt etwas für uns in Gaza zustande bringt.“

Vordringlich sind humanitäre Hilfen, wahrscheinlich für sehr lange Zeit. Die Kriegsflüchtlinge aus Schadschaija können nicht nach Hause zurückkehren. Sie haben keine Unterkunft mehr und keinen Hausrat. Am Mittwoch, dem zweiten Tag des Waffenstillstands, riskieren zwar mehr Leute, die Schulen unter UN-Flagge zu verlassen, in denen sie vor Luftangriffen und Granaten Zuflucht gesucht haben. „Aber ich gehe hier nicht so schnell weg“, sagt die resolute Suad Twam (Name geändert), die mit ihren acht Kindern im Alter zwischen einem und zehn Jahren in der UN-Schule Schate untergekommen ist. Dort sitzt sie auf der Treppe und scheuert in einer Schüssel die Großwäsche ihrer Familie, neben sich ihre Jüngste, die keinen Schritt von ihr weicht und panisch bei jedem plötzlichen Geräusch schreit.

Harte Nachkriegszeiten stehen bevor

„Alle meine Kinder leiden unter Angstausbrüchen“, erzählt die Mutter. In den beengten Verhältnissen des Notlagers ist auch kaum Ruhe zu finden. Der winzige Vorraum eines Klassenzimmers, den Suad mit der Familie ihrer Schwester teilt, ist zum Hof hin nur mit ein paar Tüchern verhängt.   Wie die beiden Frauen kommen die meisten hier aus Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen, wo viele Häuser halbwegs intakt geblieben sind.

„Aber sie können sich nicht vorstellen, dass es dort auf einmal wieder sicher sein soll“, sagt Amal Zakourt, die Schulsekretärin, die die Versorgung von 340 Familien, verteilt auf vierzig Klassenräume und Korridore mit anderen freiwilligen Helfern koordiniert. Ein weiterer Grund zu bleiben ist, dass in den UN-Einrichtungen zumindest eine notdürftige Grundversorgung garantiert ist. Die Preise auf den Märkten, die seit dem Krieg hochgeschnellt sind, können sich die Kriegsflüchtlinge nicht leisten. Selbst ein Kilo Tomaten, die es Gaza sonst immer im Überfluss gab, kostet inzwischen das Dreifache wie früher. Gaza stehen harte Nachkriegszeiten bevor.