In den Kreisen und der Stadt Stuttgart holen die neue und die abgelöste Regierungspartei je 14 Sitze. Die SPD fordert einen regionalpolitischen Aufbruch.

Stuttgart - Am Tag eins, nachdem die politische Landschaft im Südwesten umgepflügt worden ist, schaut Ingrid Grischtschenko über die Filder, wo die Landwirtschaft seit Jahren einen Überlebenskampf gegen den Flächenverbrauch von Messe, Flughafen, Gewerbegebieten und Straßen führt. "Wir haben die Ernte eingefahren", sagt die erfahrene Grünen-Politikern, die im Gemeinderat von Leinfelden-Echterdingen sitzt, seit Jahren die Regionalfraktion leitet und ihre Stimmungslage kurz und bündig mit dem Wort "bestens" beschreibt.

 

Dass die Stuttgarter Grünen einige Direktmandate erobern, dass der "Kretsch", damit meint sie den Spitzenkandidaten Winfried Kretschmann, in seinem Wahlkreis Nürtingen gut abschneidet das habe sie erwartet, sagt Grischtschenko. Dass die Grünen aber in der gesamten Region "Superergebnisse" einfahren, damit habe sie nicht gerechnet. Insgesamt 14 Mitglieder der neuen 36-köpfigen Landtagsfraktion kommen aus der Region Stuttgart: Neben den drei Direkt- und einem Zweitmandat in Stuttgart haben die Grünen in den Kreisen rund um Stuttgart zehn Zweitmandate geholt: jeweils drei in allen drei Wahlbezirken im Kreis Esslingen und im Kreis Ludwigsburg, zwei im Rems-Murr-Kreis und je eines in den Kreisen Böblingen und Göppingen. Im von der StZ errechneten Gesamtergebnis für die Region Stuttgart (siehe Grafik) haben die Grünen ihren Stimmenanteil mehr als verdoppelt und belegen Rang zwei - hinter der CDU, aber deutlich vor der SPD.

Die Christdemokraten sind in der Region zwar weiterhin die stärkste Partei, auch wenn sie nur noch 37,2 Prozent auf die Waage bringen. Lediglich im Kreis Böblingen überwand die CDU knapp die 40-Prozent-Hürde, ansonsten dümpelt sie in der Region unterhalb des Landesdurchschnitts. Wie die Grünen schickt sie 14 Abgeordnete aus der Region in den neuen Landtag - allesamt mit Direktmandaten, 13 aus den Kreisen und eines aus Stuttgart.

"Wir erreichen diese Menschen nicht mehr"

Der CDU-Regionalvorsitzende Matthias Pröfrock freut sich, dass er im Wahlkreis Waiblingen den Sprung ins Parlament geschafft hat, ansonsten aber räumt er offen ein: "Die CDU hat die Wahl auch in der Region Stuttgart verloren." Angesichts des Verlustes der Direktmandate in Stuttgart und in anderen Groß- und Universitätsstädten konstatiert Pröfrock: "Wir erreichen diese Menschen, ihr Lebensgefühl und ihre Themen nicht mehr." Es genüge nicht, wenn sich die CDU als Partei des ländlichen Raums definiere. "Wir müssen die Städte ins Visier nehmen", fordert Pröfrock. Gerade dies sei die Aufgabe junger Abgeordneter aus der Region. "Wir werden die Erfahrungen, die wir im Raum Stuttgart gesammelt haben, in der neuen Landtagsfraktion vorbringen", sagt er.

"Durchwachsen" nennt der SPD-Regionalchef Thomas Leipnitz das Ergebnis. Seine Partei habe auch in der Region verloren, andererseits übernehme sie Regierungsverantwortung. Nur noch im Kreis Göppingen und im Rems-Murr-Kreis liegen die Genossen vor den Grünen. Mit 26,4 Prozent holte Peter Hofelich im Wahlkreis Göppingen das beste Ergebnis für die SPD in der Region. Während die SPD in Stuttgart kein Mandat errang, schickt sie aus den Kreisen insgesamt acht Abgeordnete in den Landtag. Von ihnen und der gesamten Fraktion erwartet Leipnitz nun einen "Schub für die Regionalpolitik". So könne er sich neue Aufgaben für die Region etwa beim ÖPNV vorstellen, aber auch die Einführung von Regionalkreisen, in denen Aufgaben der Regierungspräsidien und Kreise zusammengefasst würden. "Das kann ein großer Wurf werden", sagt Leipnitz, der darauf setzt, dass die SPD die Regionalpolitik zu einem Thema in den Koalitionsverhandlungen mit den Grünen macht.

"Wir sind für die Demokratie von unten"

Von einer grundlegend neuen Verwaltungsstruktur spricht Grischtschenko hingegen nicht. "Wir stehen zur kommunalen Selbstverwaltung", sagt sie, "wir sind für die Demokratie von unten." Vor allem in der Regionalplanung, etwa bei der Ausweisung von Windkraftstandorten oder bei der Siedlungsentwicklung, erwartet sie sich von der grün-roten Landesregierung neue Impulse und mehr Rückhalt für die Position des Verbands Region Stuttgart. Auch im öffentlichen Nahverkehr kann sie sich neue Weichenstellungen vorstellen.

Als Mitglied der Opposition verfolgt Pröfrock diese Debatten mit Interesse. "SPD und Grüne haben immer dicke Backen gemacht und von der Landes-CDU neue regionalpolitische Impulse gefordert. Jetzt müssen sie sich daran messen lassen", übt der Christdemokrat schon mal die neue Rollenverteilung im Land.

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Öffentlicher Nahverkehr
Die SPD will die regionalen Schienenverkehre ausbauen. Die Finanzmittel des Landes für Busse und Straßenbahnen wollen die Grünen bei den kommunalen, später regionalen Aufgabenträgern konzentrieren. Sie fordern explizit, dem Verband Region Stuttgart (VRS) die Aufgabenträgerschaft für den gesamten ÖPNV im Mittleren Neckarraum zu übertragen. Der VRS solle zudem die Integration der Verkehre in die Strukturen angrenzender Regionen schaffen.

Verwaltung
Die SPD will "die Aufgaben sinnvoll zwischen Landesministerien, Landkreisen und Gemeinden aufteilen". Die Kreise sollen mehr Bürgernähe praktizieren, die Landräte direkt gewählt werden. Regionalkreise sollen in Zukunft die Aufgaben von Regierungspräsidien und Landkreisen erfüllen. Für die Grünen sind Kommunen, Regionen und Landkreise unverzichtbare und zuverlässige Partner bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Die Verwaltung soll einer umfassenden Aufgabenkritik unterzogen werden, die Rolle der Regierungspräsidien und Regionalverbände müsse neu bewertet werden mit dem Ziel einer Stärkung der örtlichen und regionalen Strukturen.

Weitere Bereiche
Im Tourismus, in der Pflege, in der Gesundheitsplanung, im Bildungsbereich, in Arbeitsmarktfragen und im Energiesektor setzen sowohl SPD als auch Grüne auf regionale Strukturen. Die Grünen fordern zudem regionale Wertschöpfungsketten in der Landwirtschaft.