Die Sozialdemokraten wollen fünf Millionen Wähler dort besuchen, wo sie am meisten Zeit haben: zu Hause. Generalsekretärin Andrea Nahles marschiert in Augsburg von Haustür zu Haustür. Längst nicht überall ist sie willkommen.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Augsburg - Eine junge Frau mit braunem Pferdeschwanz hat es sich am offenen Fenster im Erdgeschoss gemütlich gemacht. Sie sitzt in Jeans und weißem T-Shirt auf dem Sims und fängt die Strahlen der Abendsonne ein. Nein, sie will keinen Flyer mit Informationen zum SPD-Wahlprogramm. Und die Frage, ob sie am 22. September wählen geht, mag sie auch nicht beantworten. „Das geht ja niemanden was an“, sagt sie etwas pikiert. „Stimmt“, sagt Andrea Nahles gut gelaunt und läuft weiter an die Haustür. Dort drückt sie auf einen Klingelknopf ganz oben. Die Wohnung im Erdgeschoss lässt sie später links liegen. Sie will sich weder eine zweite Abfuhr holen noch Leute belästigen.

 

Wie an vielen Spätnachmittagen in diesem Sommer steht für Andrea Nahles, Generalsekretärin und Wahlkampfmanagerin der SPD, Klingelputzen auf dem Programm. Heute ist sie in Augsburg-Oberhausen unterwegs. Fünf Millionen Haustürbesuche wollen die Genossen in diesem Wahlkampf machen, um für die örtlichen Bundestagskandidaten zu werben und um die Wähler, die der SPD zuletzt den Rücken gekehrt haben, zurückzugewinnen für die Partei. Das ist kein einfacher Job. Wechselstimmung liegt nicht in der Luft. In den Umfragen hat es die SPD bisher nicht geschafft, sich auch nur in Sichtweite der Kanzlerinnenpartei vorzuarbeiten.

Andrea Nahles und die Augsburger Bundestagskandidatin Ulrike Bahr warten vor der Tür. Anscheinend ist im Dachgeschoss niemand daheim. Aber dann ertönt ein Summer, und die Tür geht doch noch auf in der Grafstraße 5. Oberhausen ist ein altes Arbeiterquartier, im Viertel gibt es viele Genossenschaftswohnungen. Die Mehrfamilienhäuser mit dem hellbraunen Linoleum auf der Treppe und dem beigen Verputz an den Wänden gehören auch dazu.

Eine Rentnerin in grüner Kittelschürze

Im zweiten Stock steht eine Rentnerin in hellgrüner Kittelschürze und drückt Ulrike Bahr ein bisschen verblüfft die Hand. „Ich weiß nicht, wer Sie sind“, sagt sie mit einem Blick auf die Generalsekretärin aus dem fernen Berlin. „Aber ich bin SPD-Wählerin.“ Da lacht Nahles laut und fragt gleich nach, welche Themen der Dame denn so unter den Nägeln brennen. „Die Zeitarbeit gehört verboten“, sagt die nach einigem Nachdenken. „Wissen Sie, ich bin gut versorgt“, setzt sie hinzu. „Ich habe 42 Jahre gearbeitet und bekomme zu meiner eigenen Rente die Witwenrente dazu. „Aber was bei Aldi und Lidl mit den Mitarbeitern gemacht wird, ist eine Sauerei.“

Darüber sind die Politikerinnen und die Frau aus dem Volk sich schnell einig. Nahles überreicht das Infoblatt zum Wahlprogramm und steigt weiter die Treppe hoch. Entweder ist oben keiner da, oder es macht niemand auf. Rasch hängen die Frauen den Klinkenhänger mit dem Konterfei der Kandidatin und der Tüte Gummibärchen an die Tür und machen sich auf ins Nebenhaus.

Der Klingelknopf als Wahlkampftechnologie

Sie haben keine Zeit zu verlieren. Der 22. September ist bald, und etwa vier Millionen Mal müssen die Genossen ihre „wichtigste Technologie in diesem Wahlkampf“ noch zum Einsatz bringen: den Klingelknopf. So hat das der Parteichef Sigmar Gabriel formuliert. Aber erdacht und durchgesetzt hat Andrea Nahles diese Kampagne. 2010 war sie bei den US-Zwischenwahlen mit Barack Obamas Kampagnemachern in Philadelphia unterwegs. „Damals habe ich gelernt, dass die Menschen der Hochglanzinszenierung von Politik immer weniger trauen. Was zählt sind persönliche Kontakte“, erzählt sie. Nachdem die Demoskopen in Deutschland die Einsicht bestätigt hatten, machte sie 2011 bei der Wahl in Bremen einen systematischen Test in einigen Bezirken. Die Mischung aus dem neuen Haustür- und dem klassischen Straßenwahlkampf brachte einen Stimmengewinn von sechs Prozent. „Danach war klar: Ich will das“, sagt Nahles.

Haustürbesuche in Zeiten von Twitter und Facebook

Auf den ersten Blick wirkt die Entscheidung anachronistisch. Haustürwahlkampf? 2013? Kann das das Mittel der Wahl sein, wo arabische Revolutionen per Twitter vorankommen? Wo Politiker ohne Facebook-Seite und Twitter-Account als hoffnungslos abgehängt gelten? Lang ist es noch nicht her, dass den Piraten zugetraut wurde, die Politlandschaft umzukrempeln, allein weil sie versprachen, die demokratische Teilhabe und den politischen Prozess mit Hilfe des Internets zu revolutionieren. Dazu passt eine Studie, wonach Jugendlichen das Chatten im Netz und der Facebook-Austausch wichtiger sind als Treffen mit Freunden in der real existierenden Welt. Ausgerechnet jetzt setzen die Genossen auf analoge Kommunikation. Jetzt geht die SPD von Mensch zu Mensch, von Tür zu Tür.

„Eine richtig coole Aktion“

„Tja“, sagt Andrea Nahles nur mit einem Seitenhieb auf die Demobilisierungsstrategie der Union. „Wir machen jedenfalls einen echten Mobilisierungswahlkampf.“ Manche in der Parteiführung hätten ihr anfangs vielleicht nur mit halbem Ohr zugehört, sagt sie im Rückblick. Ernst genommen wurde ihr Haustürprojekt jedenfalls nicht von Anfang an. Als Nahles die „Campaigner“ – das sind die 299 eigens für den Haustürwahlkampf geschulten Helfer für jeden Wahlkreis der Republik – in der Bundestagsfraktion vorstellte, „hat es heftig geknirscht“. Damals wurde die Frage des Kanzlerkandidaten kolportiert, was das denn nun wieder für ein Quatsch sein solle. „Peer Steinbrück war skeptisch, aber dann schnell total überzeugt davon“, sagt Nahles zu der Geschichte nur. „Die Partei fühlt sich wohl mit der Art des Wahlkampfs. Das gilt jetzt als richtig coole Aktion.“

Die Operation an der Haustür ist jetzt jedenfalls in vollem Gang. „Fünf Millionen Hausbesuche – das ist anstrengend, aber das schaffen wir“, sagt Andrea Nahles. Eine Million Kontakte hat die SPD schon gemacht. 31 Tage sind es noch, um das restliche Soll zu erfüllen. Akribisch wird im Willy-Brandt-Haus Buch geführt. Derzeit haben die Wahlkämpfer um Dierk Timm im nordrhein-westfälischen Rhein-Erft-Kreis die Nase vorn. Sie haben an 17 500 Haustüren geklingelt. Ein durchschnittlicher Bundestagsabgeordneter bringt es auf an die 5000 Besuche. Nahles selbst liegt bei 2000.

Die Kampagne im Praxistest

Andrea Nahles ist gern an der Front – und das nicht nur, weil sie so ihre eigene Kampagne fast täglich einem Praxistest unterziehen kann. Ihr fällt es leicht, ins Gespräch zu kommen und die Menschen zum Reden über Politik zu bringen. Dabei ist es alles andere als einfach, Brücken zu finden zwischen den konkreten Erfahrungswelten der Menschen und den Abstraktheiten, mit denen die Politik sich zu befassen hat. Doch mal fragt Nahles die Mutter eines achtjährigen Sohnes nach Spielplätzen und der Kinderbetreuung. Mal hört sie die Klagen einer alten Dame ruhig an, dass viel versprochen und wenig gehalten werde. Dann hakt sie nach, wie es denn den Alten gehe? „Die werden vernachlässigt.“ „Deshalb finde ich ja, dass wir ganz dringend eine Pflegereform brauchen.“ Beim Asia-Markt-Besitzer mit den vielen Tiefkühltruhen im Laden fragt sie nach den Stromkosten und der Energiepolitik. Der Frau, die ihren Mann verloren hat und deshalb „gerade nicht so viel über Politik nachdenkt“, versichert sie ihren Respekt und wünscht alles Gute.

Im Altenheim wird die SPD-Politikerin schon erwartet

Andrea Nahles hat schon jetzt viel erlebt an den Haustüren. Sie fürchtet das Gefühl der Ohnmacht, wenn sich mal wieder einer als NPD-Wähler outet. Sie ist bedrückt, wenn kaum einer da, und euphorisch, wenn fast jeder erreichbar ist. Sie kichert immer noch bei der Erinnerung an den heißen Tag, als ausschließlich Männer mit nacktem Oberkörper zur Tür kamen. Gefallen hat ihr auch die Siebzigjährige im Altenheim von Gummersbach. „Wird ja mal Zeit, dass ihr kommt. Ich wähl euch schließlich schon seit vierzig Jahren.“

Es ist mehr als Symbolik, dass die SPD nach ihrer katastrophalen 23-Prozent-Niederlage von 2009 den Wählern, die sie damals verloren hat, hinterhersteigt bis an die Wohnungstür. Von der grassierenden Politikverdrossenheit lassen die Genossen sich nicht einschüchtern. Vor vier Wochen sagten zwei Drittel der Befragten bei einer Umfrage zwar, dass sie keinen Wahlhelfer an der eigenen Haustür treffen wollen, aber das hält Nahles für Theorie. Ihre Erfahrungen in der Praxis sind anders. „Die Leute sind erst überrascht. Dann finden sie es gut, wenn sie freundlich angesprochen werden.“ Aber es ist ein mühsames Geschäft. In Augsburg gehen die beiden Genossinnen eine Stunde lang von Tür zu Tür. Am Ende haben sie dreißig Mal geklingelt und ein halbes Dutzend Kontakte gemacht. Üppig ist die Ausbeute nicht, aber ausgezählt wird erst am 22. September.