Warren Richardson hat für ein dramatisches Flüchtlingsbild den World Press Award 2015 gewonnen. Nun fotografiert er Flüchtlinge aus Rottenburg. Er begleitet sie durch ihren Alltag – für ein Langzeitprojekt, das erst endet, wenn jeder seinen neuen Platz im Leben gefunden hat.

Rottenburg - Miese Tricks. Das war früher. Jetzt schwört Star-Fotograf Warren Richardson auf Behutsamkeit im Umgang mit den Menschen, die er ablichtet. Dabei ist es noch gar nicht lange her, da ging er so robust wie möglich an den Job heran. Da war er der knallharte Motivjäger. Diskretion? Ein Fremdwort. Da hockt er nun also, im Rottenburger Rathaus, neben der Ausgabestelle der gelben Säcke, Tablet im Schoß, zeigt Nacktfotos von Sienna Miller. „Für ein gutes Bild, tust du Dinge, die du nicht tun willst“, sagt er, mit stark australischem Slang. Als die Schauspielerin ihn verklagt, den Prozess gewinnt, ist für ihn Schluss mit dem Paparazzo-Dasein. „Angelina Jolie, Jude Law, aus und vorbei – ich konnte mich selbst nicht mehr leiden.“ Kehrtwende. Der neue Warren Richardson versucht es mit „ehrlichen Geschichten“, wie er sagt: Armut in Laos, die Straßen von Katmandu, Szenen aus Budapest – seiner Wahlheimat.

 

Vor etwa einem Jahr hat Richardson sein Thema gefunden: Menschen auf der Flucht. Mit einem seiner Fotos bringt er es schlagartig zu Weltruhm, dafür bekommt er den World Press Photo Award. Er fängt im Sommer 2015 den dramatischen Moment ein, als ein syrischer Vater mit zu Tode erschöpftem Gesicht an der serbisch-ungarischen Grenze sein Baby durch einen Stacheldrahtzaun reicht. Im Mondschein. An das große Geld hat er in dieser Situation nicht gedacht, beteuert der 47-Jährige. Das World Press Photo, das war einmalig. „Ich bin ein schlechter Manager, weil ich meine Bilder schlecht verkaufe.“ Früher haben das Agenturen für ihn erledigt, als Freiberufler ohne Auftraggeber weiß er nie, ob jemand seine Fotos veröffentlicht. Seine Lebensgefährtin war es, die sein Bild bei World Press einreichte. Sie akzeptiert, dass er auf diese Weise arbeiten muss: Geschichten fotografieren, oft monatelang. Sie lebt mit dem gemeinsamen vier Jahre alten Sohn in Budapest.

Diese Nacht, als das berühmte Bild entstand, hat Richardsons Leben verändert. Nicht deshalb, weil er wenig später von ungarischen Polizisten verhaftet, verprügelt und stundenlang eingesperrt wird: Es hatte ihnen offenbar nicht gepasst, dass Richardson tagelang mit den Flüchtlingen am Zaun auf den richtigen Moment wartete. Nein, sein Leben veränderte sich, weil er nach seiner Freilassung auf einem 40-Kilometer-Fußmarsch Haider und Ahmed kennenlernt. Haider, 26, Iraker und Ahmad, 37, Syrer. „Sie haben mich in ihre Welt gelassen“, sagt Warren, legt die rechte Hand auf seine Brust, dorthin, wo das Herz schlägt. Einige Wochen reisen sie zusammen, verlieren sich aus den Augen, via Facebook erfährt Richardson, dass Ahmad nun in Rottenburg lebt. Hier wartet er darauf, zu seinen Asylgründen befragt zu werden. Auch Haider weiß noch nicht, wie es mit ihm weitergeht. Er ist in Sindelfingen untergebracht, verbringt aber viel Zeit bei seinem Freund Ahmad.

Ahmeds Frau hängt in der Türkei fest – mit ihren sechs Kindern

Richardson ist mit den beiden verabredet, im Rottenburger Rathaus. Hier gibt es freies Internet, es ist warm. Draußen ist einer der ungemütlichen Tage. Ein wenig wirkt der Fotograf wie ein Obdachloser. Wollmütze, fingerlose Handschuhe, struppiger Bart, Zahnlücke unten mittig, neben ihm auf dem Ledersofa liegt eine Plastiktüte mit schmutziger Wäsche. „Ich muss dringend in eine Reinigung, und ich sollte duschen.“ Er rümpft die Nase. Eine alte Dame schiebt sich an ihm vorbei, zieht energisch eine Rolle mit gelben Säcken aus dem Regal. Wenige Minuten später ist Haider da. Schüchtern, den Kapuzenpulli tief ins Gesicht gezogen, wie zum Schutz, steht er gebeugt neben Warren. Und Ahmad? Nein, der kommt nicht, es geht ihm nicht gut. Er macht sich Sorgen um seine Frau, sie wartet mit den gemeinsamen sechs Kindern seit Monaten in der Türkei. Dort musste er sie zurücklassen, weil er keine Arbeit fand. „Das macht ihn krank“, sagt Haider mit versteinerter Miene. Ahmads Frau kann nicht vorwärts, Richtung Deutschland. Sie soll nicht rückwärts, gen Syrien. Das wäre Selbstmord, erklärt Haider.

Warren begleitet die Flüchtlinge in Rottenburg so oft es geht, er fotografiert sie während des Sprachunterrichts, beim Beten in der Moschee. Er übernachtet bei Ahmad, in seinem winzigen Zimmer, das er noch mit anderen Männern teilt. So kann er tief in ihre verwundeten Seelen blicken: „Sie sind traumatisiert, haben schlimme Bilder im Kopf.“

Wie der Fotograf mit den Flüchtlingen zusammen lebt

Schon auf der Balkanroute war es Richardsons Ansinnen, zu verstehen, wie sich das anfühlt, auf der Flucht zu sein. „Ich wollte reden, lernen, mit den Flüchtlingen sein.“ Und doch sind seine Annäherungen Teil seiner Profession. Er ist und bleibt Fotograf, einer, der sich mehr Zeit zum Begreifen der Situation nimmt als viele andere. Er weiß um sein Privileg: „Ich trete in die Welt des Flüchtlings ein und kann jederzeit wieder hinaus, der Flüchtling ist Flüchtling und muss in dieser Welt bleiben.“ Er hebt seine Hände, wie zur Abwehr.

Besonders von Haider, der in Kerbela Englische Literatur studiert hat, Musik von Mozart und Beethoven liebt, schwärmt Richardson. „Haider hört zu, denkt erst, spricht dann. Fällt niemanden ins Wort. Ist höflich. Aus seinem Mund kommen nur wohlformulierte Sätze.“ Er weiß aber auch um die traurigen Momente des jungen Mannes. Haider erzählt, wie verloren er sich in seiner neuen Welt fühlt. Er ist schon seit einigen Monaten in Deutschland. Viele Kontakte zu Einheimischen hat er nicht. Er ist froh, dass Richardson für einige Tage zu Besuch ist: „Er macht mir Mut, er sagt, du schaffst das.“

Manchmal nimmt Richardson seine Canon in die Hand und schaut sich die bereits gemachten Bilder an. Mit den Schwarz-Weiß-Fotos will er nah dran sein, berühren und das Schicksal seiner Freunde in Rottenburg dokumentieren. „In diesen Gesichtern wird alles lesbar: Schmerz, Hilflosigkeit, Perspektivlosigkeit, Verzweiflung, Leere, aber manchmal auch ein Lachen.“ Veröffentlichen will Richardson die vielen Fotos eigentlich erst, wenn seine Langzeitreportage abgeschlossen ist. Wann das sein wird? „Wenn jeder von den Jungs weiß, wo sein Platz im Leben ist“, antwortet Richardson. Er wird vermutlich noch oft zurückkehren, nach Rottenburg am Neckar.

Es ist Nachmittag, das Rathaus schließt. Haider lächelt das erste Mal: „Auf Wiedersehen“, sagt er freundlich. Richardsons Umarmung ist fest: „Für jeden von uns“, sagt er, „gilt, das Leben mit beiden Händen greifen, weil nichts für immer ist.“