Doch der Fokus der Branche scheint sich vom Text- auf das Leseverständnis verlagert zu haben. Erstlesebücher teilen bereits auf dem Titel mit, für welches Leseniveau sie gemacht wurden. Suchen Eltern Vorleseliteratur, landen sie in der Buchhandlung vor einem Brett, das mit Geschichtensammlungen und Märchen gefüllt ist. Das Gros der dicken Romane erscheint erst für Kinder ab acht Jahren. Das „Urmel aus dem Eis“ empfiehlt Thienemann mittlerweile nicht mehr Sechs-, sondern Achtjährigen und orientiert sich damit eher am Lese- als am Textverständnis. Werden überhaupt Romane für Jüngere verlegt, wollen Verlage das Selberlesen wenigstens nicht ausschließen: Die Schrift wird größer, die Illustrationen zahlreich und die Geschichte kürzer. Mitunter versichert ein Vermerk, dass auch dieses Buch zum „Lesenlernen“ taugt. Weniger Augenmerk wird auf kindliche, literarische Bedürfnisse gerichtet, den Umstand etwa, dass Kinder, je jünger sie sind, Gefahr für Protagonisten, das Gelingen einer Sache oder Gemeinheiten schwerer aushalten – Formen der Spannung, mit denen „Kinderliteratur ab acht“ oft arbeitet. In diesem Regalabschnitt müssen Vorlesewillige letztlich nach unikaten, altersgerechten Einzeltiteln suchen, die ein paar Monate dort verweilen.

 

Klassiker füllen aktuelle Lücken

Verlage begründen ihre Programme mit der Nachfrage. Am besten verkaufte sich laut Börsenverein des Buchhandels 2016 ein Sachbuch, das Dreijährigen den Klogang erklärt. Es mag Eltern geben, die noch an der Bettkante lieber Lesekompetenz trainieren, solche die gar nicht und andere, die nur Bücher aus der eigenen Kindheit vorlesen wollen. Branchenkenner Wendel aber glaubt, dass aus etablierten Kinderbuchklassikern auch deshalb Vorleseklassiker wurden, weil sie eine Lücke füllen, die die aktuelle Produktion hinterlässt.

Die Stiftung Lesen untersucht regelmäßig das Vorleseverhalten in Familien. Ergebnis der jüngsten Studie war, dass Eltern zu spät mit dem Vorlesen beginnen und zu früh damit aufhören. Eindringlich empfahlen die Experten, Kindern auch während der Grundschulzeit noch vorzulesen, um ihre Lesefreude zu wecken. Hierfür allerdings braucht es mehr als einsichtige Eltern. Unverzichtbar ist geeignete Literatur.

Anne Böhme ist Journalistin und Kinderbuchautorin. Von ihr ist „Eddi Error“ im Thienemann-Verlag erschienen.