Der 70-Jährige wurde beim Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Gegner im Schlossgarten schwer verletzt. Er berichtet, dass er versucht hatte, die Polizeifahrzeuge zu stoppen – und dass er infolge der Sehbehinderung auch unter einer Depression leide.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Das Prozessgeschehen am Landgerichts bleibt an diesem Freitag nicht unberührt von dem, was die Staatsanwaltschaft bekannt gegeben hat. Obwohl alle mit Spannung darauf warten, was der am „schwarzen Donnerstag“ im Schlossgarten am schwersten geschädigte Dietrich Wagner im Zeugenstand berichtet, halten alle den Atem an, als sie hören, was die Vorsitzende Richterin mitzuteilen hat. Sie eröffnet die Sitzung und berichtet, dass nun auch gegen den früheren Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf ermittelt werde. Und muss zu ihrem Erstaunen feststellen, dass der Anlass dafür von Anfang an in den Akten des Wasserwerferprozesses enthalten ist: Eine Aufnahme, die Stumpf und den Staatsanwalt Bernhard Häußler zu der Zeit im Park zeigt, als der Wasserwerfereinsatz am massivsten war, kurz nach 14 Uhr am 30. September 2010. Das hatten die beiden angeklagten Polizeiführer vergangene Woche gesagt. „Die Aussage von Herrn Stumpf ist und bleibt falsch“, hatte der 41-jährige Angeklagte betont. Stumpf soll bei früheren Vernehmungen gesagt haben, erst später im Park gewesen zu sein.

 

In dem Verfahren geht es um die Frage, ob die beiden Beamten nicht eingeschritten sind, als Demonstranten vom Strahl des Wasserwerfers verletzt wurden. Sie hatten an den zurückliegenden Prozesstagen mehrfach betont, davon nichts mitbekommen zu haben. Auch geht es darum, ob sie den Befehl, den Wasserwerfer nur mit Wasserregen statt starker Stöße einzusetzen, nicht befolgt haben.

Dass diese Stöße abgegeben wurden, das habe der Polizeichef mitbekommen, weil er im Park gewesen sei, als der Einsatz „am massivsten“ war, hatten die Angeklagten gesagt. Das Video, das Stumpfs Anwesenheit beweist, ist auf einer Festplatte mit mehr als 100 Stunden Videos. „Ich habe die Stelle übersehen“, räumt die Richterin Manuela Haußmann ein.

Wagner wollte die Schülerdemo besuchen

Dann schildert Dietrich Wagner, was ihm widerfahren ist. Er sei in die Stadt geradelt, weil er wissen wollte, wie die Schülerdemo gegen Stuttgart 21 läuft, für die er Werbung gemacht habe. Rund 2000 Jugendliche habe er gesehen. Es habe ihn gefreut, „dass junge Leute sich so für die Politik interessieren“. Dann seien alle Jugendlichen aufgrund des Parkschützeralarms in den Park gerannt. „Ich bin hinterher“, sagt Dietrich Wagner.

Die Polizei sei schon da gewesen. „Die Beamten sahen gespenstisch aus, wie Marsmenschen“, erinnert er sich. Viele Demonstranten hätten die Polizei „einfach ignoriert, weil die offenbar nicht wusste, was sie tun sollte“.

Sodann schildert Wagner den ersten Einsatz der Wasserwerfer. „Wie ein tropischer Regen fiel das Wasser auf uns herunter“, erzählt Wagner. Er habe husten müssen und hege daher den Verdacht, dem Wasser sei Reizgas beigemischt gewesen. Durch das Wasser seien Kastanien von den Bäumen gefallen. „Ich war derart wütend, dass ich Kastanien aufgehoben und gegen die Wasserwerfer geworfen habe“, berichtet Dietrich Wagner. Die Demonstranten seien durch die Wasserwerfer so gereizt gewesen, dass sie nicht mehr nur „Wir sind friedlich! Was seid Ihr?“ in Richtung der Polizei gerufen hätten, „sondern auch Tierbezeichnungen“.

„Ein dumpfer Schlag und stechender Schmerz“

Daran, dass ein Polizist ihn angesprochen habe und aus der Zone vor dem Wasserwerfer schickte – wie in Videos zu sehen – erinnert sich Wagner nicht. Nur an den „dumpfen Schlag und den stechenden Schmerz“, als er „blind geschossen“ worden sei. Für Wagner waren die Wasserstöße gezielt auf Menschen gerichtet. Ein Video aus der Kabine des Wasserwerfers – Augenblicke bevor Wagner schwer verletzt wurde gedreht – dokumentiert, wie ein Beamter sagt: „16 bar, aber keinen richtig treffen – nur so, dass sie gehen.“ Dass die Wasserwerfer abdrehen, das habe er versucht zu bewirken. Er habe sich für sie hingestellt und mit beiden Armen gewunken. „Ich war so naiv und dachte, den Wasserwerferfahrern muss die Sinnlosigkeit ihres Tuns doch klar sein und wollte sie stoppen“, sagt der 70-Jährige.

Dietrich Wagner verlor auf dem linken Auge die Sehfähigkeit fast ganz. „Wenn man mit einer Taschenlampe von der Nase her leuchtet, sieht er noch Licht“, schildert Wagners Augenärztin. Mit dem rechten erkenne er Gesichter aus einem Meter Entfernung, Buchstaben in Größe von Autokennzeichen aus einem bis eineinhalb Meter. Aufgrund der Verletzungen und weil kaum Aussicht auf eine Besserung bestehe, habe er nun zusätzlich eine Depression erlitten und nehme Psychopharmaka. Er habe lange überlegt, ob er das vor Gericht überhaupt sagen solle.