Die Frau im Kreißsaal ist kaum zu bändigen. Sie will sich nicht anfassen lassen, schlägt um sich, ruft. Als führe sie einen Kampf an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit. Die Herztöne des Babys werden schwächer. Fixierung. Notkaiserschnitt. Nach der Geburt liegt die Frau in ihrem Zimmer. Apathisch, unbehaust, als liege da nur ein leerer Körper. Das Kind neben sich beachtet sie kaum.
So hat Michelle Scholz die Frau in einer Stuttgarter Klinik erlebt. Scholz ist Hebamme, aber sie hat auch Afrikanistik studiert und über das Thema Genitalbeschneidung bei Frauen gearbeitet. Sie merkt: Diese Frau aus dem Senegal ist retraumatisiert. Die Erfahrungen der Geburt, der Stuhl, die Haltung mit gespreizten Beinen, fremde Menschen, die sie an Vulva und Vagina berühren wollen, vielleicht auch die Schmerzen – all das hat sie zurück in die Minuten versetzt, in denen sie als Mädchen brutal beschnitten wurde. Das Trauma wirkte, ein Mechanismus aus Flucht und Kampf setzte ein, sagt Michelle Scholz.
Seit 2019 immer präsenter
Wie zeigt sich das Problem Genitalverstümmelung hierzulande? Wie viele Mädchen und Frauen sind betroffen? Wie erreicht man sie und hilft ihnen? Das sind Fragen, mit denen sich derzeit Politiker, soziale Einrichtungen und Helfende auseinandersetzen. Denn mit Frauen und Mädchen, die zuwandern, kommt das Thema zunehmend in Baden-Württemberg an – das merken vor allem jene, die in der Schwangerenversorgung und Geburtshilfe arbeiten.
„Seit 2019 hat das Thema an Fahrt aufgenommen“, sagt etwa die Sozialpädagogin Bibiana Sigel, die in der Beratungsstelle für Schwangere der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (Eva) arbeitet. „Wir erleben es in den Kreißsälen“, sagt Hebamme Michelle Scholz. „Und für uns spielt es im Kinderschutz eine Rolle, wenn sich zum Beispiel Frauen an uns wenden, die Angst haben, dass ihre Töchter beschnitten werden sollen“, sagt eine Mitarbeiterin der Eva-Beratungsstelle Yasemin.
Rund 8000 Frauen im Land
Nach Schätzungen der Frauenrechtsorganisation Terre des femmes leben in Baden-Württemberg etwa 8000 betroffene Frauen und rund 3000 Mädchen, die gefährdet sind, knapp 100 000 sind es in Deutschland, rund 200 Millionen weltweit. Für die Landeshauptstadt geht man von 1000 Beschnittenen aus. Die meisten kommen vermutlich aus Eritrea und Ägypten.
Genitalbeschneidung oder -verstümmelung – offiziell spricht man von Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) – bedeutet, dass den Frauen die äußeren Genitalien wie Klitoris, innere und äußere Schamlippen in Teilen oder vollständig entfernt wurden. Teilweise wird die Vagina der Frauen bis auf eine kleine Öffnung zugenäht.
Mit Rasierklingen, Messern, Nadeln
Es sind oft Hebammen oder Beschneiderinnen, die in den Herkunftsländern ohne Betäubung, mit Rasierklingen, Messern, Scheren, Nadeln beschneiden. Belegt ist die Praxis für 32 Länder, sie dürfte aber in weitaus mehr Staaten praktiziert werden. Ein Großteil liegt in Afrika, aber auch in Teilen Asiens, der Vereinigten Arabischen Emirate, Nord- und Südamerika und Australien wird Frauen das angetan.
Mädchen, die hier leben, werden teilweise zur Beschneidung in ihr Herkunftsland gebracht. Aber auch in Deutschland, wo die Praxis mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft wird, werden im Verborgenen Beschneidungen praktiziert, schätzen Fachleute.
Für die Beschnittenen bedeutet der seit 4000 Jahren praktizierte Ritus, der international als schweres Verbrechen und Menschenrechtsverletzung gilt, oft lebenslange Schmerzen und Leiden. „Eine zugenähte Frau kann nur tröpfchenweise urinieren oder menstruieren. Es gibt Rückstaus, es kommt zu ständigen Infektionen“, sagt Michelle Scholz.
Zugenähte Frauen müssen geöffnet werden
Vor allem in der Schwangerschaft und bei der Geburt kann es schwierig werden. Infekte und Abszesse können Frühgeburten auslösen. Narben können die Geburt länger und schmerzhafter machen. „Ich weiß von einer Frau, die fast verblutet wäre, weil das Gewebe während der Geburt bis zur Klitoris riss“, sagt Scholz. Ist eine Frau zugenäht, muss sie vor oder während der Geburt geöffnet werden. Dazu kommt die Gefahr der Retraumatisierung. „Viele beschnittene Frauen haben wahnsinnige Angst vor den Schmerzen und dem, was während der Geburt passiert.“
Umso wichtiger wäre es, die Betroffenen möglichst früh betreuen zu können, ihnen medizinisch und psychologisch zu helfen. Aber die Beschneidung ist nichts, was man einfach so ansprechen kann, weiß Bibiana Sigel, dazu müsste man erst Vertrauen aufbauen. Manche Frauen schämten sich, andere verstünden nicht, was ihnen angetan wurde. Als Frau beschnitten zu werden, Schmerzen zu haben sei Teil ihrer Kultur, die oft nicht hinterfragt werde, sagt Sigel. Im Gegenteil: Aus Angst davor, von der eigenen Community nicht mehr akzeptiert zu werden, wünschten sich manche Mädchen eine Beschneidung.
„Akt der Fürsorge“ der Eltern
„Das ist auch ein Akt der Fürsorge von Eltern, Töchter vor Ausgrenzung zu schützen in einem kollektivistischen System“, sagt die Yasemin-Mitarbeiterin. Wer nicht beschnitten sei, finde vielleicht keinen Ehemann und habe dann keine finanzielle Sicherheit.
Wie also frühzeitig die Frauen ausfindig machen und den Mädchen, die von Beschneidung bedroht sind, helfen? Das ist eine der Fragen für den Stuttgarter Runden Tisch FGM/C, den die Stadt 2019 ins Leben gerufen hat und an dem unter anderem Jugend-, Sozial- und Gesundheitsamt sowie Beratungsstellen sitzen. Auch das Landessozialministerium ist im Boot.
Wichtig sei die Vernetzung aller, die mit potenziellen Opfern zu tun haben, also etwa Sozialarbeiter, Psychologen, Frauen- und Kinderärzte. Sie werden nun teils bereits geschult und aufgeklärt, heißt es in einem Papier des Gremiums, das im Sozialausschuss präsentiert wurde. Außerdem will man schon in Kitas und Schulen oder in sexualpädagogischen Angeboten über das Thema informieren. Ein wichtiger Schritt ist, dass es seit 2023 in Göppingen eine Zentrale Anlaufstelle FGM/C im Land gibt, an die sich Fachleute ebenso wie Betroffene wenden können.
Nicht alle fühlen sich verstümmelt
In der Schwangerenberatung der Eva haben sie einen Leitfaden für die Arbeit mit den Frauen entwickelt. Wichtig sei, das Wort Genitalverstümmelung, das auch stigmatisieren könne, zurückhaltend und in der jeweiligen Muttersprache der Frau zu verwenden. „Manche Frauen beleidigt das, denn sie fühlen sich nicht verstümmelt“, sagt Bibiana Sigel. Sie will mit den Betroffenen dann auch vor der Geburt schon in die Kliniken gehen, abklären, ob eine Öffnung notwendig ist, ihnen die Angst nehmen, erklären, was während der Geburt passiert.
Wie jener werdenden Mutter aus dem Senegal, deren Problem erst im Kreißsaal offenbar wurde, soll es möglichst keiner der Frauen ergehen. Sie hatte das Glück, dass Michelle Scholz das Trauma erkannte. Die Hebamme organisierte eine Kollegin, die Französisch sprach, mit der Frau redete, ihr zuhörte. „Die Frau war danach wie ausgewechselt“, erinnert sich Michelle Scholz. Danach bekam die Familie psychologische Hilfe und Unterstützung mit dem Kind und dessen Erziehung. Wenn Frauen geholfen werde, sagt Michelle Scholz, könne eine Geburt am Ende dazu beitragen, das Trauma zu heilen.
Weibliche Genitalbeschneidung
Begriff
International wird „die teilweise oder vollständige Entfernung und Verletzung der weiblichen äußeren Genitalien“ (Definition der WHO) FGM/C genannt: Female Genital Mutilation/Cutting. Das Wort Genitalverstümmelung soll deutlich machen, dass die weibliche Beschneidung mit der Art und Weise, wie Jungen beschnitten werden, nicht verglichen werden kann, wird aber von den Betroffenen teils als stigmatisierend und verletzend empfunden.
Straftat
FGM/C gilt in allen EU-Staaten als Straftat und Menschenrechtsverletzung. In Deutschland drohen 15 Jahre Gefängnis für diejenigen, die beschneiden. Auch in vielen der bekannten praktizierenden Länder ist FGM/C offiziell verboten, wird aber dennoch vorgenommen. Durch die sogenannte Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, sind vor allem die Kommunen hierzulande in der Verantwortung, Frauen vor Praktiken wie Genitalbeschneidung zu schützen.
Schutzbrief
2021 hat das Bundesfamilienministerium einen Schutzbrief in vielen Sprachen herausgegeben, der darüber informiert, dass FGM/C eine Straftat ist. Dadurch sollen hier lebende Familien davon abgehalten werden, Töchter auf Reisen in ihre Heimatländer beschneiden zu lassen.