Händeringend sucht der Kinderarzt Heinz Holzinger nach einem Nachfolger für seine Praxis in Weinstadt-Beutelsbach. Findet sich niemand, droht die Kassenzulassung im Bedarfsplan wegzufallen. Zudem stehen 23 weitere Facharztsitze auf der Kippe.

Weinstadt - Heinz Holzinger ist ein gefragter Mann. Nur schwer ist der Kinderarzt für ein Zeitungsinterview an den Telefonhörer zu bekommen. In seiner Praxis in Weinstadt-Beutelsbach ist jetzt noch mehr los als ohnehin schon, sagt der Mediziner, der rund 800 kleine Patienten hat. „Alle wollen jetzt noch einen Impf- oder Vorsorgetermin.“ Denn zum Jahresende hört Holzinger auf, geht in den wohl verdienten Ruhestand. 28 Jahre hat er in Weinstadt praktiziert. Doch einen Nachfolger für seine Praxis hat der Kinderarzt bislang noch nicht gefunden – obwohl er bereits seit Mai intensiv sucht.

 

Sollte sich daran nichts ändern, droht sein Arztsitz wegzufallen. Denn rein rechnerisch gilt der Rems-Murr-Kreis, abgesehen von Kinder- und Jugendpsychiatern, in allen Facharztrichtungen als überversorgt, erläutert Kai Sonntag, der Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg. Diese ist zwar für die Verteilung der Sitze zuständig und über sie laufen auch deren Ausschreibungen, doch hat sie sich an rechtliche Vorgaben zu halten. „Die Anzahl der Arztsitze ist kontingentiert und wird anhand einer Verhältniszahl bezogen auf die Einwohner berechnet.“ Bei einem sich daraus ergebenden Versorgungsgrad von 100 Prozent gelte ein KV-Gebiet als ausreichend versorgt.

Im Falle der Kinderärzte im Kreis liege der Versorgungsgrad bei 147 Prozent. Damit gebe es rein rechnerisch acht Mediziner zu viel, erklärt er. Aufgrund dessen seien Neuzulassungen nicht möglich. Nur wer eine Sitz übernehme, könne sich niederlassen. Das bedeute im Umkehrschluss aber auch, dass wenn sich innerhalb der Ausschreibungsfrist von einem halben Jahr kein Nachfolger für einen Sitz findet, dieser gestrichen wird.

„Das Problem dabei ist, dass der Versorgungsgrad nicht den Anspruch erheben kann, die realen Verhältnisse abzubilden“, betont Sonntag. Zum einen basiere die Verhältniszahl auf eine im Jahr 1990 getroffene Festlegung. Inzwischen habe sich aber das Tätigkeitsspektrum von Ärzten erweitert. Zum anderen werde bei den Berechnungen nicht berücksichtigt, wie viele Patienten ein Arzt tatsächlich hat. „Gutachten zeigen, dass junge Ärzte potenziell weniger Patienten versorgen.“ Deswegen sei der Bedarfsplan nur „eine grobe Hilfsbrücke“. „Die gefühlte Versorgungssituation kann eine ganz andere sein“, sagt Sonntag.

In Weinstadt ist sie das. Dort sind Eltern mittlerweile so verzweifelt, dass sie sich schon an einen Radiosender gewandt haben, um einen Nachfolger für Holzinger zu finden. Denn bei den Kinderärzten im Umkreis könnten sie nicht unterkommen, da diese vielfach keine Patienten mehr aufnehmen könnten, klagen sie.

Auch die Stadt Weinstadt unterstützt die Nachfolgersuche mit Zeitungsannoncen. Der Oberbürgermeister Jürgen Oswald hat sich den Kampf um den Erhalt des zweiten Kassensitzes persönlich auf die Fahnen geschrieben. Dass mehr als 2800 unter Zwölfjährigen in der Stadt künftig womöglich mit nur einem Kinderarzt auskommen müssen, sei „eine Missachtung der täglichen Lebenswelt von Familien durch politische und finanzielle Interessen“, wird er in einer Mitteilung der Stadt zitiert. Wie er in der jüngsten Gemeinderatssitzung sagte, habe er nun auch Bundestagsabgeordnete per Schreiben auf die Versorgungsproblematik hingewiesen.

Holzinger selbst lässt ebenfalls nichts unversucht, hat in mehreren Fachzeitschriften Anzeigen geschaltet. Doch nur eine Bewerberin habe sich daraufhin gemeldet, die zudem vor rund drei Wochen abgesagt habe. An seiner Praxis liege es nicht, betont Holzinger: „Wer hier reinkommt, kann sofort anfangen.“ Alles sei auf dem neusten Stand. Die junge Ärztin sei auch sehr angetan von den Räumlichkeiten und ihrer Ausstattung gewesen. Aber sie habe ein erst wenige Wochen altes Baby. Das sei wohl der Grund für die Absage angesichts der doch recht großen Praxis gewesen. Andere Gründe kann Holzinger sich nicht vorstellen. Zumal seine Praxis, wie er sagt, „auf einer Insel der Glückseligen“ liege, mitten im Ort, mit guter Infrastruktur rundherum und einem vergleichsweise hohen Anteil an Privatpatienten.

Holzinger ist indes nicht der einzige Kinderarzt der nach einem Nachfolger sucht. In Backnang ist derzeit einer von drei Kinderarztsitzen vakant. Auch dieser droht zum Jahresende gestrichen zu werden. Um einen Mediziner zu finden, der in die Gemeinschaftspraxis mit einsteigt, hat die Stadt unter anderem direkt an einer Kinderklinik nachgefragt und gar ein Personalbüro eingeschalten (wir berichteten).

„Das ist ein generelles Problem“, sagt dazu auch Annette Weimann, Kinderärztin in Waiblingen und Aufsichtsratsmitglied von PädNetzS, einem Zusammenschluss von Kinder- und Jugendärzten in Baden-Württemberg, sowie ehemalige Sprecherin des Berufsverbandes der Kinderärzte im Rems-Murr-Kreis. Über die Gründe, weshalb junge Ärzte lieber in Kliniken arbeiten als sich selbstständig zu machen, kann sie ebenfalls nur Vermutungen anstellen: etwa, dass es an der Bürokratisierung der Medizin liegt, welche einen erheblichen Mehraufwand bedeutet, oder dass diese zudem weiblicher wird und die Kolleginnen wegen eigener Familienplanungen einen Job mit verlässlicheren Arbeitszeiten bevorzugen.

Die geplante Gesetzesänderung, nach der die rechnerisch überzähligen Arztsitze nicht mehr nachbesetzt werden sollen, würde die Situation zusätzlich verschärfen, warnt Weimann. „Das würde 198 Kinderarztsitze in Baden-Württemberg betreffen, davon acht im Rems-Murr-Kreis.“ Auf die gesamten Fachärzte gesehen, würden laut der KV im Kreis 23 wegfallen.

Dies hat nun auch den Landrat Johannes Fuchs auf den Plan gerufen. „Nachdem mehr als 170 der niedergelassenen Haus- und Fachärzte in unserem Kreis 60 Jahre und älter sind, bedarf es dringend einer vorausschauenden Nachfolgeplanung, die einer Erosion der ambulanten Medizinversorgung im ländlichen Raum vorbeugt“, wird Fuchs in einer Pressemitteilung des Landratsamtes zitiert. Daher berate der Kreis derzeit mit dem Landtag darüber, die Versorgungsleistungen in einer kleinteiligen Bedarfsplanung auf den Prüfstand zu stellen, um mit der KV neue Kriterien für die Sitzverteilung zu entwickeln.