Wäre es nicht klug, vernünftig zu leben? Seine Emotionen stets im Griff zu haben? Philosophen fordern das. Hirnforscher aber sagen: ganz unmöglich. Denn Vernunft und Gefühl sind untrennbar miteinander verbunden.

Stuttgart - Sei doch vernünftig“ – dazu fordern Eltern ihre nach Süßigkeiten quengelnden Kinder auf, Freunde die unglücklich verliebte Freundin und der Arzt seinen übergewichtigen Patienten. Wenn wir doch nur vernünftig handeln würden, wird uns damit gesagt, könnten wir auch besser leben. Allein unsere Unvernunft steht dem besten aller Leben im Wege.

 

Die Anhänger der antiken Philosophie der Stoa waren derselben Meinung. Für ein tugendhaftes Leben müsse der Verstand die Gefühle im Zaum halten, auf dass der Mensch zur Gelassenheit und Weisheit finde. Noch stärker stellten die Vertreter der Aufklärung die Vernunft über die Emotion. René Descartes, der bedeutendste Denker des Rationalismus, reduzierte den Menschen gar auf eine Maschine: Der Verstand müsse die Gefühle ausschalten, um so auf rationalem Wege zu einem guten, moralischen Leben zu gelangen. Bei seinen Überlegungen hatte er angeblich die Hexenprozesse der frühen Neuzeit vor Augen, bei denen sich die Richter in ihrem Urteil von sadistischen Neigungen leiten ließen.

Aber wäre es nicht auch heute gut, wenn wir unseren emotionalen Impulsen widerstehen könnten? Wenn wir das T-Shirt der hippen Marke liegen ließen, weil wir wissen, dass es von Kindern in Bangladesch genäht wurde? Wenn wir zu Äpfeln griffen statt zu Chips? Wenn wir dem Drang, die Rolltreppe zu nehmen, widerstünden und die Stufen zu Fuß erklömmen?

Ein Arzt, der nach Gefühl operiert?

Verstand statt Gefühl – wäre das der Weg zum besseren Leben? Viele Menschen glauben, es handele sich bei den Begriffen um ein Gegensatzpaar. Man bewahre entweder einen „kühlen Kopf“ oder sei ein Heißsporn, dem die Emotionen davongaloppieren. Wer sich von seinem Gefühl treiben lässt, gilt als wenig zuverlässig. Vielleicht würden wir einen solchen Menschen als Trauerredner beschäftigen. Aber wer würde schon einem Börsenanalysten sein Geld anvertrauen, der gesteht, er wähle sein Aktienportfolio nach Gefühl aus? Oder sich von einem Arzt behandeln lassen, der seine Diagnose mit seinem Bauchgefühl erklärt? Oder einen Politiker wählen, der bei heiklen Entscheidungen Gefahr läuft, von seinen Emotionen überwältigt und von Tränen geschüttelt zu werden? Wir erwarten, dass all diese Menschen für ihr Handeln gute, rational nachvollziehbare Gründe vorbringen.

In Wirklichkeit hängen jedoch Gefühl und Verstand untrennbar zusammen. So zeigt sich im Kernspintomografen, dass die gefühlsverarbeitenden Areale im Innern des Gehirns, die als das limbische System bezeichnet werden, auf eine bestimmte „emotionale Ansprache“ bei fast allen Menschen gleich stark reagieren. Besonders aktiv zeigt sich dabei eine kleine, mandelförmige Struktur: die Amygdala. Allerdings melden sich bei Personen, die am Ende eine scheinbar sachliche Entscheidung treffen, zusätzlich zur Amygdala auch Areale im orbitalen und medialen präfrontalen Cortex, also im Bereich des für Kognition zuständigen Vorderhirns. Der Londoner Neurobiologe Benedetto De Martino zieht daraus den Schluss: „Menschen, die rational entscheiden, empfinden nicht weniger Emotionen. Sie regulieren sie nur besser.“

Vermutlich würden sie ganz ohne Emotionen gar keine oder zumindest keine richtigen Entscheidungen treffen. Der portugiesische Neurowissenschaftler Antonio R. Damasio hatte einen Patienten namens Elliot, der als Führungskraft in einem mittelständischen Unternehmen arbeitete. In Elliots Gehirn zerquetschte ein apfelsinengroßer Tumor Teile seines ventromedialen präfrontalen Cortexes. Dabei handelt es sich um ein Areal, das für die Bewertung und Steuerung von Emotionen verantwortlich ist. Eine Operation konnte den Mann zwar von seinem Tumor befreien, doch nach seiner scheinbaren Genesung änderte sich seine Persönlichkeit erheblich.

Krank aus lauter Vernunft

Zwar blieb Elliots hohe Intelligenz unbeeinträchtigt, aber er wurde immer unfähiger, Entscheidungen zu treffen. Stundenlang saß er in seinem Büro und grübelte, nach welchem Ordnungssystem er seine Dokumente ablegen sollte, vertiefte sich in unwichtige Papiere und brachte nichts mehr zuwege. Schließlich wurde er entlassen, stürzte sich in Spekulationsabenteuer und ließ sich dabei über den Tisch ziehen. Ihm fehlte das „ungute Gefühl“, das sich bei anderen Menschen in solchen Situationen einstellt. Antonio Damasio, heute Direktor des Instituts für Gehirn- und Kreativitätsforschung an der Universität von Südkalifornien, fasst den Fall in seinem Bestseller „Descartes‘ Irrtum“ zusammen: „Die Tragödie des ansonsten gesunden und intelligenten Mannes lag darin, dass er weder dumm noch unwissend war und sich trotzdem oft so verhielt, als wäre er es. Die Mechanismen seiner Entscheidungsfindung waren so beeinträchtigt, dass er nicht mehr als verlässliches Mitglied der Gesellschaft handeln konnte. Obwohl er die katastrophalen Folgen seines Handelns sah, schien er aus seinen Fehlern nicht zu lernen.“ Mit anderen Worten: Der Mann war zu vernünftig.

Wir sind Gefangene unserer Gefühle

Das soll nicht heißen, dass es nicht in bestimmten Situationen vernünftig wäre, vernünftig zu sein. Selbstverständlich sind Menschen in der Lage, sich für das Verstandesgemäße zu entscheiden. Sie können die Treppe statt der Rolltreppe nehmen. Sie können auf das coole T-Shirt und die Chips verzichten, wenn sie sich anstrengen und sich überwinden. Die Neurowissenschaftler sind sich jedoch sicher, dass Menschen Gefühle und Verstand nicht trennen können. Unzählige Einflüsse der Umwelt wirken unbewusst auf unsere Entscheidungen ein. Spielt ein Supermarkt in der Weinabteilung französische Chansons, sind wir eher geneigt, französischen Wein zu kaufen. Der Moralpsychologe Jonathan Haidt, Professor an der New York University, ist sogar davon überzeugt, dass auch alle unsere moralischen Urteile von der Emotion gesteuert werden. Erst nachdem wir das Urteil gefällt haben, überlegen wir uns gute Gründe, mit denen wir es rechtfertigen.

Sehen wir also der Wahrheit ins Auge: Wir sind Gefangene unserer Emotionen. Die Aufforderung „Sei doch vernünftig“ führt uns nicht auf den Königsweg zum besseren Leben.