In früheren Wahlkämpfen wurde mit viel härteren Bandagen gekämpft als im laufenden. Verunglimpfungen gehörten zum Standardrepertoire der Parteien. Das machte den Wettstreit interessant, ein Ausweis politischer Reife war es nicht.

Stuttgart - Fast nichts scheint von den Aufregungen und hitzigen Auseinandersetzungen früherer Bundestagswahlkämpfe geblieben zu sein. Gerade 13 Prozent der deutschen Wähler bezeichnen die anstehende Bundestagswahl als „Schicksalswahl“, in der sich die Zukunft Deutschlands entscheide. Früher waren das bis zu siebzig Prozent. Dem jetzt zu Ende gegangenen Wahlkampf wird nachgesagt, er sei eher langweilig gewesen. Aber ein Wahlkampf, der wenig Wellen schlägt, muss nicht für Politikmüdigkeit stehen, er kann auch ein Zeichen politischer Reife sein.

 

In den fünfziger Jahren, als die Demokratie in der Bundesrepublik das Laufen lernte, hatte Konrad Adenauer gesagt: „Wie kann man die Wähler bei der Bundestagswahl an die Wahlurne bringen, wenn man ihnen keine Gegensätze zu anderen Parteien vor Augen führen kann?“ In den ersten Jahren der Republik war die Politik auf größtmöglichen Gegensatz programmiert, der in den Wahlkämpfen derart durchschlug, dass man im westlichen Ausland besorgt fragte, ob die Deutschen die demokratischen Spielregeln begriffen hätten.

In den früheren Jahren der Republik trauten die Politiker den Wählern noch nicht

Inzwischen haben die Wähler gelernt, dass Macht jene ernüchtert, die sie mühsam errungen haben. Neue oder wiedergewählte Regierungen genießen nicht ihre Befehlsgewalt, sondern leiden eher an ihrer Machtlosigkeit in einem gut ausbalancierten System, das dem Sieger allenfalls erlaubt, die Akzente hie und da anders zu setzen. Mit Schicksalswahlen hat das nichts mehr zu tun. Doch in den früheren Jahren der Republik trauten die Politiker den Wählern noch nicht und meinten ihnen sagen zu müssen, es gehe ums Ganze, um die Existenz des neuen Systems. Wahrscheinlich können jüngere Wähler nicht nachvollziehen, mit welcher Gnadenlosigkeit gestandene und vom Schicksal geprüfte Politiker übereinander herfielen.

Die Rede ist von Kurt Schumacher und Konrad Adenauer. Tausende Sozialdemokraten waren von den Nazis verfolgt oder ermordet worden. Auch Schumacher verbrachte fast zehn Jahre im Konzentrationslager. Daraus leiteten er und viele Genossen einen automatischen Führungsanspruch für das Nachkriegsdeutschland ab.

Seinen Kontrahenten Adenauer überzog Schumacher mit Beleidigungen

Entsprechend zog man 1949 in den ersten Bundestagswahlkampf. Legendär ist Schumachers richtungsweisender Satz: „Ich will den ganzen Sozialismus, nicht das reformistische Linsengericht.“ Neben seinen antibürgerlichen Reflexen dominierte in Schumachers Wahlkampf auch seine Geringschätzung der Kirchen. Er bezeichnete sie als „fünfte Besatzungsmacht“. Das kostete die SPD vor allem bei den katholischen Arbeitern im Rheinland viele Stimmen. Seinen Kontrahenten Adenauer überzog Schumacher mit Beleidigungen. Die CDU hielt der SPD-Vorsitzende für einen „zusammengelaufenen Haufen“ von Reaktionären und Kapitalisten. In Adenauer, den er als „Lügenauer“ bezeichnete, sah er einen Kandidaten von Gnaden der Alliierten, den er nicht ernst nahm.

Adenauers Mangel an rhetorischer Brillanz verleitete die SPD dazu, ihn zu unterschätzen. Schon bei der Vorbereitung der Bundestagswahl 1949 sagte Adenauer: „Diejenige Partei, die als erste an die Macht gelangt, ist in der Lage, die Weichen für die Zukunft zu stellen.“ Zugleich gab er die These aus, im Wahlkampf „die Dinge zurückzuführen auf möglichst einfache und klare Begriffe“. Der durch und durch bürgerliche Adenauer griff die SPD hart an. Im Wahlkampf 1949 sagte er den Satz, von dem er auch in späteren Wahlkämpfen nicht abrückte: „Mit einem Sieg der SPD droht der Untergang Deutschlands.“ Und er pflegte zu ergänzen: „Wird Deutschland christlich oder wird es sozialistisch regiert werden? Sollte es sozialistisch regiert werden, dann seien wir uns klar darüber, dass der Sozialismus keinen Damm gegen den Kommunismus bildet.“ Und er zögerte nicht mit der Behauptung: „Die SPD ist der Feind des Christentums.“ Tatsächlich wurde die Wahl 1949, die Adenauer knapp gewann, im katholischen Rheinland und Ruhrgebiet entschieden.

1953 verlief die Auseinandersetzung ähnlich hart, allerdings mit dem Unterschied, dass der erste Kanzler der Republik nun die Massen anzog und diese sowohl ihn als auch seinen erfolgreichen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard bejubelten. Im Interesse der Wiedervereinigung setzte die SPD auf einen Ausgleich mit dem Osten und strebte eine Neutralisierung der beiden deutschen Teilstaaten an. Adenauer konterte: „Das ist die größte Eselei, die es überhaupt gibt.“ Und erstmals fügte er den Satz an: „Die Lage war noch nie so ernst.“

Die SPD kürte 1961 Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten

Im Wahlkampf 1953 hatte die SPD gewarnt, ein weiterer Sieg Adenauers bedeute die „Vernichtung und Ausrottung“ der Arbeiterbewegung, und auch vier Jahre später versuchte sie den Wählern einzureden, ein Sieg der Union führe zu „dauernder Einparteienherrschaft und zu Inflation, zur endgültigen Spaltung Deutschlands und zum Atomtod“. Vor dem Nürnberger Landesparteitag der CSU im Juli 1957 setzte Adenauer noch einmal dagegen: „Die SPD darf nie an die Macht kommen. Das sage ich nicht aus parteipolitischem Hass, sondern weil ich glaube, dass mit einem Sieg der SPD der Untergang Deutschlands verknüpft ist.“

Wie schon 1953 waren die Wahlen von 1957 „Adenauer-Wahlen“. Als das Wahlergebnis vorlag, fuhren Lautsprecherwagen durch Bonn, um Adenauers absolute Mehrheit zu verkünden. Doch die SPD lernte aus ihren Fehlern und verabschiedete 1959 in Godesberg ein neues Grundsatzprogramm, und sie kürte 1961 Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten. Mit 36 Prozent gelang dem Regierenden Bürgermeister Westberlins das bis dahin beste Ergebnis für die SPD. Adenauers Stern begann zu sinken. Seine Untergangsthesen verfingen nicht mehr, die Zeit der „Schicksalswahlen“ schien endgültig vorbei.

Nun ging es vornehmlich um Personen. Im Bundestagswahlkampf 1969, der auf die Große Koalition folgte, wurde ständig daran erinnert, dass Kurt Georg Kiesinger, der Kanzlerkandidat der Union, Mitglied der NSDAP gewesen war. Das war noch einigermaßen glimpflich im Vergleich zum Wahlkampf 1972, dem härtesten seit den fünfziger Jahren. Brandt hatte mit ihm sympathisierende Intellektuelle um sich geschart, die den SPD-Kanzler zum Inbegriff der politischen Moral erhoben und den politischen Gegner zum Symbol des Bösen stempelten. Mit scharfen Worten zeichnete Wahlhelfer Günter Grass den Kanzlerkandidaten der Union, Rainer Barzel, als „Ausbund menschlicher Ekligkeit“. Andererseits zögerte die Gegenseite nicht, auf die uneheliche Herkunft Brandts hinzuweisen, und ihn einen „Verräter“ zu nennen, weil er 1946 zum Nürnberger Prozess in norwegischer Uniform erschienen war.

Die SPD erklärte Franz Josef Strauß für nicht friedensfähig

Als 1980 Franz Josef Strauß gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt antrat, kam es zu einem Duell der Giganten, das alle Sachthemen überlagerte, zugleich aber auch in die Rhetorik des Kalten Kriegs zurückführte. Die Union griff wieder zu Kampagnen gegen Sozialismus und Volksfrontgefahren. Ihr Wahlslogan lautete: „Gegen den SPD-Staat – Stoppt den Sozialismus“. Die SPD erklärte Strauß für nicht friedensfähig und griff ihn mit einer Härte an, die Golo Mann, der einst für Willy Brandt eingetreten war, zu der Bemerkung veranlasste: „Die Hetze gegen Strauß ist von einer Art, wie ich sie seit der Hetze gegen den Reichspräsidenten Ebert in meiner frühen Jugend nicht mehr erlebt habe.“

Ein Wahlkampfabkommen aller Parteien sah eine gemeinsame Schiedsstelle vor, die aber nicht funktionierte. Strauß war nicht zu zügeln. Ein Wort Edmund Stoibers aufgreifend, sagte der Unions-Kandidat mit Blick auf die SPD, auch die Nazis seien letzten Endes Sozialisten gewesen. Stoiber selbst verglich die SPD-nahen Intellektuellen mit „Ratten und Schmeißfliegen“.

Helmut Schmidt war kühl und arrogant und trieb damit Helmut Kohl zur Weißglut

Auf dem Unionsparteitag in Berlin griff Strauß Bundeskanzler Schmidt hart an. Er sei dumm, ein willfähriges Werkzeug der Linken, ein Partner Moskaus, unter dessen Führung Deutschland verrotte. Als Parteifreunde ihn zur Zurückhaltung ermahnten, sagte er: „Soll ich den Schmidt etwa loben?“ Der CDU-Politiker Walther Leisler Kiep schrieb später über Strauß: „Dieser intelligente Politiker begriff offenbar nicht, dass er durch seine Polarisierungsstrategie das große Wählerpotenzial der politischen Mitte vor den Kopf stieß.“

Drei Tage vor der Bundestagswahl 1980 übertrugen ARD und ZDF die Fernsehdebatte des Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß und des Bundeskanzlers Helmut Schmidt sowie des CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl und des FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher. Dieser Veranstaltung gab man den Namen „Elefantenrunde“. Schmidt war kühl und arrogant und trieb damit Helmut Kohl zur Weißglut. Als es um den Wehretat ging und die drohende Nachrüstung mit Mittelstreckenwaffen in Europa, konterte Helmut Schmidt: „Lieber Herr Kohl, Sie waren doch Weißer Jahrgang, sie hätten sich freiwillig bei der Bundeswehr melden können, und Sie können das immer noch nachholen, scheint mir.“ Strauß wetterte gegen SPD und FDP, „diese Schlauchbootgemeinschaft“, aber Genscher lächelte nur milde dazu.

Später war man sich darin einig, dass diese Redeschlacht zu emotional, personenbezogen und inhaltsarm geführt worden war. Umfragen ergaben, dass diese Politik der Anwürfe und Beleidigungen in der Bevölkerung einen schalen Geschmack hinterließ. Die Bundesrepublik war auf dem Weg in die Normalität.