Doha - Der örtliche Organisationschef der Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Doha errötete nicht, als er kurz vor dem Auftakt eine gute Nachricht verkündete: Für die zehn Wettkampftage, erklärte er der staunenden Weltöffentlichkeit, seien nur noch 5000 Tickets zu haben. Inzwischen weiß man: Er muss etwas verwechselt haben. Mit 5000 war mutmaßlich die Maximalzahl der pro Tag verkauften Eintrittskarten gemeint.
Sehr zufrieden äußerten sich im Vorfeld auch die Veranstalter der Turn-Weltmeisterschaften, die an diesem Samstag in Stuttgart beginnen. Doch haben sie tatsächlich allen Grund: Die meisten Wettbewerbe sind bereits seit Wochen restlos ausverkauft. Während in Doha die Tickets mittlerweile verschenkt werden, könnten die Plätze in der Schleyerhalle an manchen Tagen doppelt belegt werden. Größer könnte die Diskrepanz nicht sein.
Weltmeisterschaften sind für den Breitensport immens wichtig
Was für beide Disziplinen gilt: Ihre Weltmeisterschaften sind von herausragender Bedeutung. Nicht oft bekommt die Leichtathletik und das Turnen die Gelegenheit, auf der ganz großen Bühne Werbung in eigener Sache zu machen. Umso bedauerlicher, wie kläglich die Leichtathleten, genauer deren Funktionäre, diese Chance in Doha versemmelt haben. In der Hitze kollabierende Langstreckenläufer in der Stadt, leere Ränge im Khalifa-Stadion – es sind diese Bilder, die seit einer Woche um die Welt gehen. Ziemlich genau so sieht Anti-Werbung für den Sport aus.
Mögen zumindest die Turner ihre Chance nutzen. Denn wohl nie zuvor war es wichtiger als heute, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass der Sport nicht nur aus der Fußball-Champions-League besteht.
Die Leichtathletik und das Turnen sind nicht nur olympische Kernsportarten – sie sind auch die wichtigsten Disziplinen im Nachwuchs-, Breiten- und Gesundheitssport. Von unschätzbarem Wert ist ihre Bedeutung in einer Gesellschaft, in der die Bewegungsarmut immer bedrohliche Ausmaße annimmt, Kinder keine Purzelbäume mehr schlagen können und Jugendliche den größten Teil ihrer Freizeit mit dem Smartphone verbringen.
Deutschland muss wieder ein Vorreiter werden
Es sind Probleme, mit denen Deutschland nicht alleine ist. Doch wurde hier in den vergangenen Jahren besonders tatkräftig dabei mitgeholfen, den Bedeutungsverlust des Sports zu forcieren. Es bedarf keiner weiteren wissenschaftlichen Studien mehr, um zu wissen, wie fundamental wichtig für Kinder die Bewegung ist. In der Politik ist der Sport dennoch nicht viel mehr als ein Orchideenfach. In den Schulen ist es sehr oft der Sportunterricht, der als Erstes hinten runterfällt, wenn personeller Notstand herrscht oder Gelder gekürzt werden. Und in den Kommunen vergammeln Turnhallen, Tartanbahnen und Schwimmbäder.
Die fehlende Infrastruktur ist auch der Grund, warum Deutschland nur noch sehr eingeschränkt in der Lage ist, internationale Großereignisse auszurichten. Ein klares Bekenntnis zum (Spitzen-)Sport würde man sich wünschen – von der Politik und auch der Bevölkerung. Es mag nachvollziehbare Gründe geben, warum sich die Hamburger und Bayern mehrheitlich gegen die Ausrichtung Olympischer Spiele ausgesprochen haben. Doch bergen solche Großveranstaltungen nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Olympia 1972 hat dies ebenso gezeigt wie die Fußball-WM 2006. Umso bitterer, dass die Vergabe der Leichtathletik-WM an Doha ein weiteres Mal die großen Missstände im internationalen Funktionärswesen offengelegt hat.
An Stuttgart liegt es nun, der Welt und nicht zuletzt den Menschen in diesem Land zu zeigen, dass der deutsche Sport trotz aller Missstände lebt. Am Publikum wird es nicht scheitern. Seine Begeisterungsfähigkeit kennt man nicht erst seit der rauschenden Leichtathletik-WM 1993. Sie war das Gegenteil von Doha.