Winnender Schelmenholz Bewohner schätzen den Retro-Charme

Klassische Einfamilienhäuser sind im Schelmenholz die Ausnahme – dafür gibt es praktisch jeden anderen Haustyp zu sehen, der seit den 1970er-Jahren modern war. Foto: Frank Eppler

Das Winnender Schelmenholz ist 1964 in kürzester Zeit hochgezogen worden. In den vergangenen Jahren wurde noch einmal nachverdichtet. Das hat dem Quartier – einer typischen Trabantenstadt – aber nicht geschadet.

Für den Winnender Klimamanager Roland Rauleder gibt es keinen besseren Wohnort als seinen eigenen – das Schelmenholz. Dort ist er aufgewachsen, weil sein Vater als Bosch-Mitarbeiter zu den vielen Fachkräften gehörte, die es in den 1960er- und 1970er-Jahren hierher zog. Und hierher ist der 42-Jährige später auch mit seiner eigenen Familie gezogen. Denn das Viertel hat alles, was es aus Roland Rauleders Sicht braucht: kleine Geschäfte am Theodor-Heuss-Platz, die schnell erreichbar sind, und kurze Wege in die Innenstadt und zum Freibad. Und vor allem gibt es den Waiblinger Berg in greifbarer Nähe. Mit dem Fahrrad ist er in wenigen Minuten draußen im Grünen. Auf Radtouren durch Wald und Weinberge erholt sich Rauleder am liebsten.

 

Die Schelmenholzer lieben ihr Viertel – und besonders die Lage

Er ist nicht der einzige, dem es so geht. Alteingesessene Winnender Bürger mögen die Trabantenstadt, die Mitte der 1960er-Jahre entstand, mit Misstrauen beäugt haben – den Schelmenholzern ist das egal. Langjährige Bewohner stehen mit Überzeugung hinter ihrem Viertel, das verwaltungstechnisch streng genommen eigentlich nur ein Wohnplatz ist. Ein überzeugter Schelmenholzer ist auch Karl-Heinrich Lebherz, der von 1978 an 16 Jahre lang Oberbürgermeister der Stadt war. Er hat als Hauptamtsleiter von März 1963 an die Entstehung des Schelmenholzes erlebt. Ein Jahr später ist er mit seiner jungen Familie selbst dorthin gezogen: „Ich wollte unbedingt ganz nah am Geschehen sein“, sagt der 87-Jährige. Er hat die Entscheidung nie bereut, sondern im Jahr 1974 unweit seiner alten Wohnung eine Eigentumswohnung gekauft.

Stuttgarter Architekturstudenten seien im Jahr 1959 mit der Idee eines solchen Viertels auf die Winnender Stadtverwaltung zugekommen, sagt Lebherz. Zunächst landete sie in der Schublade. Aber man griff sie wieder auf, als wenige Jahre später die Firma AEG den Standort Bad Cannstatt verlassen wollte und ihre Ansiedlung in Winnenden davon abhängig machte, dass Wohnraum für ihre Mitarbeiter in unmittelbarer Nähe geschaffen wird. Weil die Stadt mehrere Grundstücke im Schelmenholz besaß, fiel die Wahl auf diesen Standort – der damals im Volksmund noch „Amerika-Stückle“ hieß. Auf dem Reißbrett wurden Wohnungen für 4000 Menschen geplant. Als sie bezogen wurden, sagt Lebherz, wuchs die Stadt, die damals knapp 12 000 Einwohner hatte, „praktisch über Nacht“ um ein Viertel.

Das alte Viertel wirkt verblüffend modern

Die ersten Häuser, die damals im Gebiet Schiefersee gebaut wurden, stehen noch. Ursprünglich reichte der Rasen hier von Fassade zu Fassade – ein Alptraum für manch schwäbischen Einfamilienhausbesitzer. Ein Paradies dagegen aus Roland Rauleders Sicht: Als Kind habe er das Viertel genossen, sagt er, weil es unglaublich viel Platz zum Spielen gab. Nun haben sich die Rasenflächen in parkähnliches Grün zwischen den Häusern verwandelt, die Bäume von damals sind ausladende Riesen geworden. Die Weitläufigkeit lässt den Eindruck entstehen, dass Autos keine Hauptrolle mehr spielen. Ausgerechnet da, wo das Schelmenholz am ältesten ist, wirkt es verblüffend modern.

Das liegt nicht nur daran, dass behutsam nachverdichtet worden ist, wie Markus Schlecht, der Leiter des Stadtplanungsamtes auf einem Spaziergang durch das Schelmenholz erläutert: Die Mehrfamilienhäuser wurden um Querriegel ergänzt, die auf Stelzen stehen, um die Frischluftzirkulation nicht zu unterbrechen. Die Freiflächen dazwischen sind abwechslungsreicher gestaltet worden, es gibt jetzt Spielecken, Rückzugsräume und neue Treffpunkte.

Unverändert ist das Schelmenholz auch eine Art städteplanerischer Sandkasten geblieben, in dem mit zahlreichen Ideen experimentiert wurde: Es gibt Terrassenhäuser, Teppichhäuser, Kettenhäuser – nur klassische Einfamilienhäuser sind selten. Es gibt ein prämiertes Flüchtlingswohnheim aus der Feder von Werner Sobek. Und es gibt zukunftsweisende Projekte wie beispielsweise das Haus E der Kreisbaugesellschaft, zu dessen Grundsteinlegung Anfang Juli sogar Nicole Razavi, die baden-württembergische Ministerin für Landesentwicklung und Bauen, angereist ist. „Ein absolutes Leuchtturmprojekt“, schwärmte Dirk Braune, der Chef der Kreisbau. Es sei Schlusspunkt der Revitalisierung des gesamten Viertels.

Zukunftsweisend: Fernwärmenetz aus dem Jahre 1964

Wenn das Haus im Frühjahr 2023 bezogen wird, soll es über Wärmepumpe und Photovoltaikanlage mehr Energie produzieren als die Bewohner der 32 Wohnungen verbrauchen – was sehr willkommen sein dürfte. In Spitzenzeiten wird es zusätzlich durch das lokale Fernwärmenetz versorgt. Dieses Netz ist so alt wie der gesamte Stadtteil. Es wurde bereits 1964 vom damaligen Oberbürgermeister Hermann Schwab eingeweiht und Mitte der 1990er-Jahre von Kohle auf Gas umgestellt. Diese hocheffiziente Wärmeversorgung ist ein weiterer Grund, warum Klimamanager Roland Rauleder so stolz auf seinen Stadtteil ist. Dass das Viertel revitalisiert worden ist, da würde er dem Kreisbauchef recht geben. Aber Schluss ist damit wohl noch lange nicht.

Ein altes Wohnviertel bleibt modern

Der Protagonist
 Roland Rauleder ist seit dem vergangenem Herbst bei der Stadtverwaltung Winnenden als Klimamanager tätig. Seine Aufgabe ist es, die Stadtverwaltung klimaneutral zu machen. Er ist im Schelmenholz aufgewachsen und wohnt noch immer dort.

Zum Viertel
Bei seiner Einweihung in den 1960er-Jahren wurde das Schelmenholz als „großartiges Siedlungsprojekt“ gefeiert, später sah man Trabantenstädte kritisch. Jetzt erlebt das Viertel durch Neubauten und Nachverdichtung einen Aufschwung.

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