Der Korruptionsskandal um den Fußball-Weltverband ist zu einer Staatsaffäre mit geopolitischen Verwerfungen zwischen den USA und Russland angewachsen. Dennoch wird Sepp Blatter als Präsident wiedergewählt. Impressionen vom Fifa-Kongress.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Zürich - Da steht er dann also doch wieder am Ende dieses langen Tages in Zürich und redet als Sieger. Der alte ist der neue Präsident. Der neue Präsident ist der alte. Sepp Blatter also, schon wieder. Zum fünften Mal bereits. Nun soll der 79-Jährige mal wieder einen Neuanfang in die Wege leiten, nachdem sein Kontrahent Prinz Ali aus Jordanien nach dem ersten Durchgang zurückgezogen hat. Zwar hatte Blatter mit 133:73 Stimmen die nötige Zweidrittelmehrheit zunächst verpasst, aber Ali wollte keinen zweiten Gang mehr.

 

Sepp Blatter dankt also strahlend seinem Kontrahenten, den Delegierten und sagt: „Wir bringen das Boot wieder sicher in den Hafen.“ Und dies: „Wir müssen unser Image wieder verbessern. Morgen müssen wir damit anfangen.“ Und das: „Ich mag Euch, Ihr habt mich zurück in die Fifa gebracht. Ich bin nicht perfekt.“ Es ist das Ende eines denkwürdigen Tages in Zürich am Ende einer Woche, die so zu Ende geht, wie es bei der Fifa immer zu Ende geht: Mit Sepp Blatter als Sonnenkönig der Fifa.

Der Tag begann bei strahlendem Sonnenschein. Am ZSC-Platz vor dem Zürcher Hallenstadion ist am Morgen die Polizei aufgefahren. Manch einer der Funktionäre, die gerade auf dem Weg zum 65. Kongress der Fifa sind, wirft einen kurzen Blick rüber zur Staatsmacht. Am Vortag war der Fifa ja schon wieder ein Exekutivmitglied abhandengekommen, Brasiliens neuer Verbandschef Marco del Nero war da abgereist, warum genau ist unklar. Sein Vorgänger als CBF-Chef, José Maria Marin, gehört zu den sieben Funktionären, die am Mittwoch in Zürich unter Korruptionsverdacht festgenommen worden waren.

An die Wende glaubt keiner wirklich

Aber das Interesse der Polizisten gilt an diesem Freitag nicht den Vertretern der ehrenwerten Fifa-Familie, sondern einer Demonstration auf der anderen Straßenseite. Einige Palästinenser und Sympathisanten fordern dort den Ausschluss Israels aus der Fifa; Palästinas Verband hat einen entsprechenden Antrag gestellt. Sepp Blatter wollte den sportpolitischen Sprengstoff im Vorfeld abräumen, gelungen ist es ihm nicht, was natürlich ein herber Rückschlag für seine Ambitionen ist. Blatter, findet Blatter, hätte nämlich längst stellvertretend für die Fifa den Friedensnobelpreis bekommen müssen. Da wäre so eine erfolgreiche Friedensmission mit einem gelösten Nahostkonflikt natürlich hilfreich. So aber wird er wohl auch nächstes Jahr enttäuscht sein, wenn das Nobelpreisgremium aus für ihn völlig unerfindlichen Gründen einmal mehr die Fifa links liegen lässt.

Europa strahlt leichte Zuversicht aus, als die Delegierten am Morgen das Hallenstadion betreten. Am Vorabend und in der Nacht wurde in bilateralen Gesprächen um jede Stimme gekämpft. Lobbyarbeit für den Prinzen. Viele seien umgekippt oder zumindest am Wanken. Die USA, Australien, Neuseeland, auch aus Afrika gäbe es Stimmen für den Kandidaten der Uefa. „Es war vielfach zu spüren, wenn man mit den Leuten gesprochen hat, dass bei dem einen oder anderen Land eine Umkehr in der Meinung eingetreten ist“, sagt Reinhard Rauball, der Präsident der Deutschen Fußball-Liga. Wirklich an den Sieg glauben tut keiner. Und was ist dann? „Das vermag ich nicht zu sagen.“ 73 Stimmen werden es am Ende. Immerhin, sagen die einen, nur, sagen die anderen angesichts der Umstände.

Sitzt der größte Feind der Fifa in der Fifa?

Der Kongress beginnt wie immer mit einem Test der elektronischen Abstimmungsgeräte, traditionell ein humoristischer Höhepunkt derartiger Zusammenkünfte. Die Fifa stellt Suggestivfragen: Ist Deutschland Fußball-Weltmeister? Mit überwältigender Mehrheit von 95 Prozent wird dem zugestimmt. Die zweite Frage ist kniffliger: Findet der nächste Kongress 2016 in Mexiko-City statt? Immerhin 93 Prozent drücken den richtigen Knopf.

Dann betritt Sepp Blatter die Bühne. Er spricht von Mannschaftsgeist, „damit wir vorwärts gehen können“. Vorwärts in die Zukunft mit der Vergangenheit, mit ihm, der die Fifa seit 1998 führt. Es ist die bekannte Rhetorik. Blatter will die Familie hinter sich versammeln und ein Bollwerk gegen die Welt außerhalb der Fifa schaffen, die die Fifa zu Unrecht mit Dreck überzieht, das ist sein Prinzip. Wir da drinnen, die da draußen. Aber sitzt der größte Gegner der Fifa nicht eigentlich in der Fifa selbst? Auch in Großbritannien, das wurde am Freitag bekannt, wird nun von den Strafverfolgungsbehörden ermittelt.

Gerissener Architekt der Macht

Die Krise der Fifa ist zu einer geopolitischen Staatenaffäre ausgewachsen. Hochrangige Führer von Nationen schalten sich ein, die USA und Russland streiten, Wladimir Putin steht zu Blatter und kritisiert die Ermittlungen des FBI, er bangt um die WM 2018, die USA verteidigen sich, und selbst auf dem anstehenden G-7-Gipfel soll die Fifa Thema sein, fordern einige. Grundsätzlich sind das durchaus Dimensionen, in denen sich die Fifa unter Sepp Blatter selbst gerne verortet, allerdings doch lieber in einem anderen Kontext als Korruption.

Blatter nennt den Skandal einen „Sturm“. Und Kapitän Blatter sagt im Auditorium, dass das sinkende Schiff in einen sicheren Hafen finden möge. Das hat er schon mal gesagt, bei seiner Wiederwahl 2011. Damals war die See auch schon rau, massive Korruptionsvorwürfe die Vergabe der WM 2022 an Katar betreffend machten die Runde. Damals wagten es manche, Achtung: von einer „Krise“ zu sprechen. Blatter nicht. „Krise? Was ist eine Krise?“ Eben.

In den vergangenen Jahren hat Blatter mit vielen wunderlichen Aussagen von sich reden gemacht, zuletzt faselte er bei der WM 2014 etwas von einer interstellaren WM und Spielen auf anderen Planeten. Mit Blatter war es bisweilen bei Reden wie mit dem Problemonkel, der zu später Stunde auf Familienfesten gerne anzügliche Witze erzählt, die alle fürchten. Aber hinter dieser Fassade des alternden Präsidenten steckt ein gerissener Architekt der Macht. Auch mit 79 Jahren noch.

Vor wenigen Tagen hatte sich die Fußball-Ikone Diego Maradona zu Wort gemeldet. Der Argentinier glänzt seit Ende seiner Karriere auf dem Platz neben bemerkenswerten Gewichtsschwankungen vor allem mit Worten. „Wir haben einen Diktator auf Lebenszeit.“ Und: „Wir brauchen eine Fußball-Kultur, keine Mafia-Kultur.“

Evolution statt Revolution

Aber zurück zum Familienfest der Fifa. So einen Kongress muss man sich vorstellen wie die Zusammenkunft des örtlichen Schwimmclubs zu seiner Jahreshauptversammlung, wobei wir die ehrenwerten Schwimmclubs natürlich nicht in einen Topf mit dem, mit Verlaub, Saustall Fifa werfen wollen. Selbst Blatter sagt ja: „Die Fifa ist kein Verein wie ein Schwimmclub.“ Das sind die Kennzahlen dieses gemeinnützigen Vereins: 5,718 Milliarden Dollar Milliarden Umsatz im Zyklus von 2011 bis 2014, der Gewinn liegt bei 338 Millionen Dollar, die Rücklagen sind auf 1,523 Milliarden Dollar gestiegen.

In der Halle sagt gerade ein Vertreter der Compliance-Kommission der Fifa noch ein paar Sätze, Domenico Scala, der Mann, der darauf aufpasst, dass sich in der Familie alle an die Regeln halten. Nach allem, was so bekannt war und nun bekannt geworden ist, scheinen die Grundsätze des Compliance ja nicht jedem hier so ganz bekannt zu sein. Vielleicht würde auch ein Blick ins 56-seitige Fifa-Ethikreglement (Ausgabe 2012) helfen, das im Hallenstadion ausliegt. In der Präambel heißt es: „Die Fifa ist unablässig bestrebt, den Ruf des Fußballs und insbesondere der Fifa vor illegalen, unmoralischen oder unethischen Machenschaften zu schützen.“ Am Mikrofon klingt das so: „Fehlverhalten hat einen Einfluss auf uns alle in der Fifa und im Fußball.“ Höflicher Applaus am Ende des Vortrags. Alle warten längst nur auf die Wahl, Punkt 17 der Tagesordnung. Zuerst geht es aber zum Mittagessen, 90 Minuten Pause.

Lustiges Händeschütteln

Kurze Aufregung gibt es in der Unterbrechung um eine Bombendrohung. Die Halle wird geräumt und durchsucht. Eine leere Drohung. Nichts wird gefunden.

Aus Deutschland meldet sich Michael Frontzeck, Trainer von Hannover 86, zu Wort: „Es ist peinlich, was da abläuft. Fußball ist so ein tolles Spiel, aber Verbrecher laufen leider überall herum.“ Und aus Berlin lässt Kanzlerin Angela Merkel verlauten: „Die schmutzige Seite, wie David Cameron es gerade gesagt hat, mit der muss aufgeräumt werden.“ Großbritanniens Premier hatte in Berlin zuvor seine Forderung nach Blatters Rücktritt wiederholt.

In Zürich geht der Kongress weiter. Teil zwei beginnt. Und alle sind gespannt. Gibt es eine Abrechnung auf offener Bühne mit Blatter? Kurz bevor in der Halle der Punkt 12.1, der Antrag, Israel aus der Fifa zu werfen (der später zurückgezogen wird), besprochen wird, rückt draußen nochmal die Polizei an. Einige Palästina-Sympathisanten bedrängen den Eingang. Die Polizei schiebt sie raus, Fifa-Mitarbeiter riegeln den Bereich ab. Die Polizei steht vor den Absperrungen. Ein Passant fragt, wie es für Blatter aussehe. Gut. „Sehr gut. Dann kann er den Neuanfang starten, in vier Jahren ist die Zeit reif für neue Kräfte.“ Im Saal werden Videos gezeigt, in denen Funktionäre aus kleinen Staaten das Hohe Lied auf die Großzügigkeit der Fifa singen, Ergebenheitsadressen an Sepp Blatter folgen. Alles läuft offensichtlich ziemlich prächtig in der Fifa.

Auch Sepp Blatters Laune wird besser. Nach einem Video über die Fifa-Initiative „Handschlag für den Frieden“ ruft er: „Lasst uns das hier im Kongress machen.“ Es werden lustig Hände geschüttelt.

Grüezi aus dem Paralleluniversum.

Es ist 16.33 Uhr, als Punkt 17 („Wahl des Präsidenten“) erreicht ist. Es beginnt mit Reden der Kandidaten. Beide haben 15 Minuten. Prinz Ali bin Al Hussein startet. Am Vortag hatte Uefa-Chef Platini scherzhaft gesagt, dass Prinz Ali nicht anfällig für Korruption sei, weil er genügend Geld habe. Prinz Ali verhaspelt sich ab und an, aber sein Angebot ist klar. Ein neues Gesicht muss her, seines: „Wir stehen an einer Kreuzung“, sagt er. „Es ist an der Zeit, der Welt zu zeigen, dass wir hungrig auf den Respekt der Welt sind.“ Viel mehr sagt er inhaltlich nicht, keine Angriffe, er formuliert recht zahm.

Um 16.47 Uhr tritt Blatter ans Mikrofon. Knapp 15 Minuten kurz zusammengefasst: „Wir brauchen keine Revolution. Wir brauchen eine Evolution.“ Also ihn. Auch wenn der evolutionäre Prozess der Fifa hin zu einem glaubwürdigen und lupenreinen Verband, etwas polemisch formuliert vielleicht, unter ihm eventuell länger dauert als die Evolution vom Affen zum modernen Homo sapiens. Zumindest ist das der Eindruck. Weitere Wortbeiträge gibt es nicht.

Zähes Wahlverfahren

Es wird gewählt. Aber nicht elektronisch, sondern in Kabinen, die USA hatten dies beantragt. Und so werden die Präsidenten der 209 Verbände einzeln zu den Kabinen gerufen. Es wird theoretisch spannend, praktisch wird es unglaublich zäh. Nach acht Minuten ist „A“ durch. Nach einer Stunde darf Swasiland vor. Die Entdeckung der Langsamkeit. Schäfchenzählen in der Fußballvariante. Der Livestream der Fifa im Internet dürfte alle etwaigen Schlafprobleme lösen. Die ersten Fifa-Abgesandten müssen auf ihre Flieger.

Die neu formierte Exekutive der Fifa mit dem neuen Mitglied, DFB-Chef Wolfgang Niersbach, trifft sich schon an diesem Samstag in Zürich mit dem Präsidenten. Niersbach hatte sich überlegt, ob er das Amt nicht antritt. Vorerst ist er dabei, alles weitere bespricht die Uefa später. Alles scheint denkbar, Boykotte, Rücktritte. Möglich ist aber auch, dass nichts passiert.

Um 18.30 Uhr wachen alle wieder auf. Es ist vorbei. Es wird öffentlich ausgezählt. Auch das dauert. Michel Platini gähnt. Wolfgang Niersbach verpasst das Dinner vor dem DFB-Pokalfinale in Berlin. Um 18.57 Uhr ist es soweit: Blatter bekommt 133 Stimmen (Prinz Ali 73), aber er verfehlt angesichts von 209 Stimmzetteln knapp die Zweidrittelmehrheit. Dann ergreift Prinz Ali das Wort. Er bedankt sich bei seinen Unterstützern, und er gibt auf. Das Spiel ist aus. Und Sepp Blatter spielt weiter. Bis 2019.

Für eine weitere Amtszeit, hat er am Freitag noch gesagt, stünde er aber nicht mehr zur Verfügung.