Das baden-württembergische Wirtschaftsministerium bringt Lotsen für die Digitalisierung an den Start, die kleinere Unternehmen beraten sollen. Viele sind auf diesem Gebiet noch Neulinge.

Stuttgart - Das Wirtschaftsministerium fördert in den kommenden drei Jahren mit einer Million Euro Digitalexperten, die kleine und mittlere Unternehmen beraten sollen, die auf diesem Gebiet noch Neulinge sind. Die Projekte werden beim Handwerk, Handelsverband, Hotel- und Gaststättenverband und beim Virtual Dimension Center Fellbach. Dies ist ein Zentrum, das sich mit dem Thema Virtualisierung im Ingenieurbereich beschäftigt – hier geht es beispielsweise um 3D-Simulationen oder den Einsatz von virtueller Realität, die etwa Produktionsprozesse oder Wartungsvorgänge anschaulicher macht.

 

„Vor allem viele kleine und mittlere Unternehmen sind beim Thema Digitalisierung noch zurückhaltend und brauchen niederschwellige Unterstützungsangebote“, sagte Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) zum Programmstart.

Die kleinen und mittleren Unternehmen im Land sollen einen Überblick über die technologischen Entwicklungen – etwa bei der Einführung der elektronischen Rechnung bis hin zur Entwicklung zukünftiger Geschäftsmodelle. Neben Informationen gibt es Workshops, Beratungen und die Möglichkeit, sich mit so genannten Paten zu vernetzen. „Insbesondere kleine und Kleinstunternehmen des Handwerks werden von dem niederschwelligen Angebot profitieren, das landesweit zur Verfügung stehen wird“, sagte Hauptgeschäftsführer des Baden-Württembergischen Handwerkstags, Oskar Vogel. Auch der Handelsverband hofft, dass nun Unternehmen erreicht werden können, denen bisher Unterstützung fehlt: „Dies beginnt beim Webauftritt und geht über innovative Online-Marketingmaßnahmen bis hin zur digitalen Laden- und Geschäftsausstattung“, sagte Sabine Hagmann, die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands Baden-Württemberg. Es gehe vor allem darum, kleine und mittelständische Unternehmen bei Planung und Entwicklung zu unterstützen, sagte Christoph Runde, Geschäftsführer des Virtual Dimension Center Fellbach, das entsprechende Beratung anbietet.

Studie: Die Politik ist bei der Digitalisierung gefordert

Dies entspricht auch der Forderung von Experten. Ein aktueller Leitfaden der wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP) – einem Zusammenschluss führender deutscher Maschinenbau-Professoren, darunter Thomas Bauernhansl, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart, weist darauf hin, dass nicht die Digitalisierung der Produkte und ihrer Produktion die große Herausforderung der so genannten Industrie 4.0 ist, sondern die neuen Möglichkeiten der Vernetzung technischer Systeme. Die Autoren des Papiers befürchten, dass der Mittelstand auf dem Weg zu Industrie 4.0 unter die Räder kommen könnte und sehen die Politik gefordert.

„Wir benötigen Unterstützung beispielsweise für sogenannte Living Labs, echte Fabriken zu Demonstrationszwecken“, sagt etwa Günther Schuh aus Aachen, einer der Autoren des Standpunktpapiers, das an Staatssekretär Georg Schütte vom Bundesministerium für Bildung und Forschung übergeben wurde. In diesen Fabriken könnte eine Art Fahrplan angewendet und die Entwicklung hin zu Industrie 4.0 aufgezeichnet werden, „damit wir alle lernen, wie es real funktioniert“, so Schuh. WGP-Präsident Eberhard Abele betont auch die politische Dimension. Die Zeit dränge. Die WGP sei besorgt, dass die traditionell starke Produktionswirtschaft – ein Grundpfeiler des Standorts Deutschlands – nicht mehr im Blickfeld von Politik und Gesellschaft sei. Gleichzeitig könnte sie von ausländischen Unternehmen wie etwa aus China den Deutschen womöglich aus der Hand genommen werden, befürchten die Professoren. Mit dem Standpunktpapier wollen sie dieser Entwicklung etwas entgegensetzen. Seien die notwendigen Voraussetzungen erst einmal geschaffen – dazu zählen noch fehlende Schnittstellenstandards und die Infrastruktur für Informations- und Kommunikationstechnologien – habe der deutsche Mittelstand die Kraft und das Knowhow, die Produktion im Land zu halten und die großen Herausforderungen durch Industrie 4.0 zu meistern, sagt Abele.

Deutsche Firmen unterschätzen Chancen, überschätzen Risiken

Deutsche produzierende kleine und mittelständische Unternehmen sind dem Papier zufolge gegenüber Industrie 4.0 noch zu zurückhaltend. Teilweise würden die Chancen unterschätzt, die Risiken dagegen eher überschätzt. Unternehmen versteckten sich vielfach hinter Schutzbehauptungen wie etwa, dass Industrie 4.0 nur etwas für finanzstarke Konzern sei, oder dass man den notwendigen Datenschutz nicht leisten könne. Allerdings würden insbesondere von der Politik die verfügbaren technischen Möglichkeiten häufig überschätzt.

Das eigentlich revolutionäre sei nicht die Digitalisierung. „Werkzeugmaschinen sind bereits seit 20 Jahren digitalisiert“, sagt Schuh, sondern vielmehr die Möglichkeiten, die sich aus der Vernetzung technischer Systeme in Echtzeit ergeben. Die dabei anfallenden riesigen Datenmengen ließen sich nur dann mit unternehmerischem Nutzen auswerten, wenn ein „hinreichend genaues“ Abbild relevanter Daten geschaffen werden könne – der digitale Schatten. „Und genau das ist das Schlüsselloch, durch das produzierende Unternehmen hindurch müssen“, sagt Schuh. Darüber sei bisher aber noch kaum geredet worden. Mit dem Standpunktpapier erhielten produzierende Unternehmen einen Leitfaden, um Industrie 4.0 in der Produktion möglich zu machen. Bisherige Stellungnahmen zu Industrie 4.0 zeigten vor allem die Sichtweise von Informatik, IT und Unternehmensberatungen.