Adler, Schützen, Sonne, Ochsen . . . Von Problemen in der Gastronomie keine Spur: Wer vor rund 100 Jahren durch die Orte ging, hatte eine reiche Auswahl. In Bietigheim etwa kam auf 100 Einwohner ein Wirtshaus. Ein Blick zurück.

Vor gut 100 Jahren brachte es das damals recht beschauliche Bietigheim auf sage und schreibe 39 Wirtschaften. Und das, obwohl der Ort gerade mal etwas über 4000 Einwohner hatte. Die Bürger nutzten das Angebot rege. In den jährlichen Pfarrberichten wurde regelmäßig „ein tief verwurzeltes Wirtshausleben“ beklagt – übrigens nicht nur der normalen Bürger sondern auch der Honoratioren.

 

Dazu muss gesagt werden, dass man um diese Zeit noch nicht klassisch zum Essen ins Wirtshaus ging. Sondern eher zum Trinken. Wein und Most wurden angeboten, auch Bier gab es. Allerdings gab es in Bietigheim lange Zeit keine eigene Brauerei. Die erste – und vermutlich einzige – eröffnete erst 1802. Erwin Rudolph weiß das und noch viel mehr. Er ist seit fast 20 Jahren Stadtführer in Bietigheim und hat bestimmt schon 10 000 Leute durch den Ort geführt. Dazu hat er auch Geschichten aus dem Bietigheimer Wirtshausleben aus dem Stadtarchiv ausgegraben. Einige eigene Erinnerungen kann er ebenfalls beisteuern: Erwin Rudolph ist 83 Jahre alt, er ist hier geboren und aufgewachsen.

Das Wunder von Bern für einen Verzehrbon

Deshalb weiß er auch, dass der erste Bietigheimer Fernseher im Schützen stand. „Ich habe dort 1954 das Fußball-WM-Endspiel geschaut.“ Das Wunder von Bern: Deutschland gewinnt gegen die favorisierten Ungarn mit 3:2. Wer im Schützen fernsehen wollte, musste übrigens einen Verzehrbon kaufen.

Die Bietigheimer Wirtshaus-Geschichte beginnt natürlich viel früher. Das Gasthaus zur Krone blickte auf eine mehr als 500-jährige Historie an zwei Standorten, ehe es 1972 abgerissen und dem Kronen-Zentrum weichen musste. Die Hoch-Zeit der Wirtschaften war um die Jahrhundertwende und nach dem ersten Weltkrieg, vor der Weltwirtschaftskrise.

Die trinkfreudigen Bietigheimer also pilgerten in den Adler, den Schützen, die Sonne, den Ochsen, ins Lamm, den Bären . . . Wobei das nicht ganz willkürlich geschah, sondern eher berufs- beziehungsweise interessensbezogen. Die Ziegenzüchter zum Beispiel zog es in die Alte Weinstube, im Adler trafen sich die Bierkutscher und die Bauern, die die Krautköpfe von den Fildern holten.

Der Bietigheimer Hommel, der örtliche Zuchtbulle, stand in einer Scheuer hinter der Traube. Also haben die Bauern ihre Kühe dorthin geführt und dann noch in der Traube etwas getrunken. Die Rose hingegen war schon immer recht vornehm, dort verkehrten die Honoratioren, berichtet Erwin Rudolph. Heute ist das Restaurant Maerz in der Rose ein Sternerestaurant.

In der Krone gab es die besten Bockwürste in Bietigheim. Dort soll auch Graf Zeppelin verkehrt sein – ob wegen der guten Bockwürste, ist allerdings nicht bekannt. Die Höflinge des Königs haben die Spezialität allerdings regelmäßig dort abgeholt, um die Beteiligten der Jagden zu verköstigen.

Frische Fische aus dem Brunnen neben dem Gasthaus

Oft hatten die Gastwirtschaften nur abends geöffnet. Ihre Wirte waren tagsüber Bäcker, Metzger oder – wie beim Anker vor dem unteren Tor – Fischpächter. Der Anker-Wirt fischte in der Enz und lagerte die frischen Fische im Brunnen neben dem Gasthaus. Die Hausfrauen kauften ihre Ware dort frisch. Beliebt war der Anker auch bei Handwerksgesellen und Künstlern. In der Stube wurde gezaubert und wurden Kunststücke vorgeführt. Bezahlt wurden die Darbietungen mit Most.

Zum Thema Bietigheimer Trinkfreude weiß Stadtführer Erwin Rudolph noch eine Anekdote aus der Gastwirtschaft Harmonie: Dort gab es das „Land-unter-Saufen“. Auf dieses Kommando hin verschwanden alle Gäste unterm Tisch und tranken ihr Weinglas leer. Es heißt, es sei immer wieder passiert, dass der eine oder andere Schwierigkeiten gehabt habe, wieder unter dem Tisch hervor zu kommen . . .

Beim Wett-Weitpinkeln gewonnen

Etwas über die Stränge geschlagen hat laut den Geschichtsbüchern auch eine Schar junger Herren, die sonst im Falken verkehrte. Die Wirtschaft war bekannt für ihre hübsche Bedienung, und eines Tages begleitete diese einige Gäste zur Kirbe in Metterzimmern. Auf dem Rückweg gab es ein Wett-Weitpinkeln. Es heißt, die junge Dame hätte die Männer um Weiten geschlagen. Allerdings musste sie daraufhin Bietigheim verlassen. Der Wirt des Falken habe aber eine neue hübsche Bedienung gefunden.

Heute gibt es von den 39 von Erwin Rudolph gezählten Gaststätten nur noch sechs: Die Rose, die alte Weinstube, die Traube, den Falken, den Schiller (heute Da Vita) und den Bären, der momentan aber geschlossen hat.

Und: So trinkfreudig die Bietigheimer anno dazumal waren – so richtig krachen lassen konnten sie es freilich nicht allzu häufig. Ein Viertelliter Wein kostete zwischen 80 Pfennig und 1,50 Mark. „Das klingt heute günstig“, sagt Erwin Rudolph. Allerdings gibt er zu bedenken, dass der Stundenlohn bei rund einer Mark lag. „Wenn man das heute so umsetzen würde, wäre das Viertele schon beim Mindestlohn ziemlich teuer.“