Wer Fifa-Boss ist, sollte nicht bescheiden sein. Dem Fußball-Weltverband geht es schließlich stets um das Schneller, Größer, Weiter. Also lässt es Gianni Infantino in schöner Regelmäßigkeit krachen. Folgt man dem 52-Jährigen, so darf sich der geneigte Fußballinteressierte in den kommenden vier Wochen auf einiges gefasst machen. Die an diesem Sonntag (17 Uhr/ZDF) mit dem Spiel zwischen Gastgeber Katar und Ecuador beginnende WM wird, davon gibt sich der Fifa-Präsident aus der Schweiz überzeugt, die „beste aller Zeiten“. Die Fans aus aller Welt erwarte nicht mehr und nicht weniger als „die größte Show der Erde“.
Nun wird das Turnier bekanntlich in einem Staat ausgetragen, der für seinen Umgang mit Menschenrechten in der Kritik steht. Eine Kritik, auf die der mächtige Fifa-Chef zunehmend genervt reagiert. „Konzentrieren wir uns auf das Sportliche“, appelliert Infantino beinahe verzweifelt an die Vertreter der nationalen Fußballverbände. Lieber lobt er den Gastgeber in den Himmel. Katar, betont Infantino, habe viel versprochen – und geliefert.
Ein Emirat im Zeichen der WM
In dem Emirat am Persischen Golf ist in der Tat alles auf die Weltmeisterschaft ausgerichtet, die in den Startlöchern stehende WM omnipräsent, auch und vor allem in Doha, Hauptstadt und Epizentrum des Turniers. Dort sind – mit Ausnahme der deutschen Mannschaft, die ihr Camp im Norden des Landes aufgeschlagen hat – fast alle Teams untergebracht. Hier gibt es die gigantische Fanmeile: auf der Corniche, einer sechsspurigen Straße entlang der Strandpromenade, die während des Turniers für Fahrzeuge gesperrt ist und auf der sich vor allem abends Tausende Menschen tummeln. Fifa-Fahnen wehen überall in der Stadt. Auf Häuserwänden, überdimensionalen Plakaten und Bildschirmen, in Bussen, Taxis, der nagelneuen Metro – überall wird für das Ereignis geworben.
Extra rausputzen muss sich Doha für das Megaevent nicht. Die neuen Stadien sind rechtzeitig fertig geworden. Die Fassaden der futuristischen Hochhäuser glänzen in der Sonne, nachts blinken ihre Lichter um die Wette. Laser zaubern einen riesigen WM-Pokal, klatschende Hände oder ein „Welcome to Katar“ (Willkommen in Katar) in den Himmel. Die Fans staunen.
Keine Frage, das macht Eindruck. Was ganz nach dem Geschmack der Gastgeber sein dürfte, die sich das geschätzte 220 Milliarden Euro kosten haben lassen – also rund 15-mal (!) mehr als die bisher teuerste WM 2014 in Brasilien mit 15 Milliarden Euro. Katar ist alleine schon aus geopolitischen Gründen darauf erpicht, sichtbar zu sein – und eingebettet in der Weltgemeinschaft. Um ja nicht erdrückt zu werden von den mächtigen und machthungrigen Nachbarn Saudi-Arabien und Iran.
Erzkonservativ und handelshungrig
Einnahmen aus Öl- und Gasvorkommen haben Katar in den vergangenen Jahrzehnten reich gemacht, sehr reich. Nach innen gilt das von Emir Scheich Tamim bin Hamad al-Thani autokratisch geführte Land als erzkonservativ, mit der islamischen Scharia als Grundlage der Gesetzgebung. Homosexualität gilt hier als „Geistesschaden“, wie ein WM-Botschafter kürzlich sagte. Nach außen versucht das Emirat Netzwerke zu knüpfen, Handelsbeziehungen mit dem Westen zu vertiefen, Geschäfte zu machen. Nicht ohne Grund sind in Doha Dutzende Ableger westlicher Elite-Unis zu finden.
In den Fokus der Weltöffentlichkeit katapultiert sich Katar auch und vor allem durch den Sport. In dem Bereich ist das Land längst ein Global Player geworden. Der deutsche Rekordmeister Bayern München kassiert viele Millionen Euro von Sponsor Qatar Airways, der staatlichen Fluglinie – allen Protesten der kritischen Bayern-Fans gegen diesen Sponsor zum Trotz. Der französische Spitzenverein Paris Saint-Germain, für den Topstars wie Kylian Mbappé, Lionel Messi und Neymar kicken, gehört einem katarischen Staatsfonds. Der Brasilianer Neymar ist überdies einer der offiziellen WM-Werbeträger.
2015 fand in Katar die Handball-WM statt, 2019 gab es die Leichtathletik-Titelkämpfe – und nun zur Krönung: der Fifa World Cup 2022, wie die Endrunde offiziell heißt. Die erste Fußball-WM in einem arabischen Staat.
2,5 Millionen Arbeitsmigranten in Katar
Rückwärtsgewandt und offen, technisch fortschrittlich und gesellschaftlich versteinert: Katar ist ein Land der Widersprüche, in das seit Mittwoch die Fans strömen. „Vorher war es ziemlich ruhig“, berichtet Caven Shiferaw, der eines der mintfarbenen Taxis vom Flughafen in die Innenstadt bewegt. Der 29-Jährige kommt aus Äthiopien, lebt und arbeitet seit sechs Jahren am Persischen Golf. Ein freundlicher junger Mann, der nicht allzu viel von sich preisgeben mag. Nur dies: „Meine Familie ist in meiner Heimat. Ich bin alleine hier, aber mir geht es gut.“
Caven Shiferaw ist einer von rund 2,5 Millionen Arbeitsmigranten in Katar. Deren Bedingungen haben sich tendenziell verbessert, sagt Ellen Wesemüller von Amnesty International in Berlin und verweist etwa auf die Einführung eines Mindestlohnes. Sie betont: „Es ist nicht so, dass sich gar nichts getan hätte.“ Anders als in Russland (Fußball-Weltmeisterschaft 2018) und Peking (Olympische Winterspiele 2022). Dort habe sich nichts bewegt. Im Gegenteil, die Lage sei schlimmer geworden.
„Krasse Abhängigkeitsverhältnisse“
Von einem „Alles ist gut“ ist Katar noch weit entfernt, betont Wesemüller. Gewerkschaften seien nach wie vor verboten, der anvisierte Fonds für ausstehende Löhne lasse auf sich warten, wer seinen Job ohne Einwilligung seines Arbeitgebers hinschmeißt, lande im Knast – und, und, und. Schlimm ist die Lage nach Angaben der Amnesty-Sprecherin für die Abertausenden Hausangestellten, in der Regel Frauen, die in „krassen Abhängigkeitsverhältnissen“ stünden und nicht selten physischem, psychischem und sexuellem Missbrauch ausgesetzt seien.
Vor allem der Tod Tausender Menschen, die Medienberichten zufolge in den vergangenen Jahren während oder in Zusammenhang mit ihrer Arbeit gestorben sind, liegt wie ein Schatten über der WM. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Amnesty International setzen sich für einen Entschädigungsfonds für Hinterbliebene ein. Auch Fußballverbände wie der DFB unterstützen die Forderung inzwischen. Die Regierung Katars will davon nichts wissen. Auch die Fifa duckt sich weg.
Mehr als eine Million Fans werden in den kommenden Tagen zur WM erwartet. Katar will sich von der besten Seite zeigen – und unangenehme Themen hintanstellen. Ob das gelingt, ist fraglich. Von diesem Sonntag an rollt der Ball in der Wüste.
25 Grad Celsius um 5 Uhr früh
In Doha steht derweil die Hitze wie eine Wand in der Stadt. Es ist Mitte November, und wenn die Sonne gegen 5 Uhr früh am Firmament erscheint, zeigt das Thermometer bereits 25 Grad. Tagsüber klettert die Anzeige gerne mal über die 30er-Marke. Sport im Freien ist bei diesen Temperaturen etwas für Hartgesottene.
Gianni Infantino wird dennoch gute Miene zu all dem und zum bösen Spiel machen. Wie vor vier Jahren. Damals dankte er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich. Für die beste WM, die es je gegeben habe.