Der rote Wälzer „WohnOrte²“ ist ein einzigartiges Nachschlagewerk über die Stuttgarter Baugeschichte aus besonderer Perspektive. Auch als Architekturführer leistet das Buch gute Dienste.

Stuttgart - Stuttgart hat eine große Tradition als Wohnstadt. Man könnte das manchmal vergessen, da Wohnen in letzter Zeit vor allem als Problem wahrgenommen wird: zu wenig Bauland, zu wahnsinnige Preise, noch immer zu viel Markt und zu wenig Gemeinnützigkeit usw. – die Misere ist bekannt. Sie wird auch in dem roten Wälzer mit dem Titel „WohnOrte² “ nicht beschönigt, im Gegenteil, kaum eine Seite, auf der nicht die Rede davon ist. Der Überblick über rund 130 Jahre Wohnungsbau in Stuttgart führt jedoch vor Augen, welcher Reichtum an Wohn- und Siedlungsformen in dieser Stadt vorhanden ist, wie er sich bewahren und für die kommenden Jahre fruchtbar machen lässt. Von allein, schreibt der Städtebauer Franz Pesch, werde sich diese Entwicklung freilich nicht ergeben, es bedürfe schon einer „Offensive“, in der alle innovativen und politischen Kräfte gebündelt werden, damit Stuttgart als Wohnstadt wieder Wegweisendes hervorbringt.

 

Wie wegweisend die Stadt einmal war, zeigt die kleine Schwarzweiß-Fotografie auf dem Cover: Die Weißenhofsiedlung, ein programmatisches Manifest des Neuen Bauens, setzte 1927 internationale Maßstäbe im Wohnungsbau und zeugt von Stuttgarts Vorreiterrolle in der Moderne. Mehr als durch die Architektur der kubischen Häuser taugt sie heute aber durch den Aufbruchsgeist ihrer Ideengeber, Finanziers und Schöpfer als Modell für die Zukunft. Wenn wie hier ein wagemutiger Oberbürgermeister, sein Baubürgermeister, ein tatkräftiger Werkbundchef und die Architektenavantgarde der Zeit zusammenwirken, dann entsteht Mustergültiges. Inspiriert von diesem Geist soll die Internationale Bauausstellung Stadt-Region Stuttgart (IBA), hundert Jahre nach dem Weißenhof-Experiment, wieder zu neuen Ufern gelangen.

Heute droht ein austauschbarer Standard

Stuttgart ist jedoch mehr als die Weißenhofsiedlung, viel mehr – das erweist sich beim Blättern durch die rund neunzig in Text und Bild dokumentierten Wohnquartiere, von den Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Arbeitersiedlungen in Stuttgart-Ost und Heslach über die Nachkriegshochhäuser von Hans Scharoun in Rot und Fasanenhof bis zu aktuellen Projekten wie dem Olga-Areal und Rosensteinquartier. En passant spannt sich das historische Panorama der gesellschaftlichen und politischen Wohn- und Stadtbauvorstellungen auf.

Im späten 19. Jahrhundert dominierten sozialreformerische Ideen, gefolgt vom englischen Gartenstadtideal in den zwanziger und dreißiger Jahren. Die Siedlungen der Fünfziger und Sechziger sind vom Leitbild der gegliederten, aufgelockerten Stadt der Wiederaufbauzeit bestimmt, die Trabantenstädte der Siebziger streben Urbanität durch Dichte an. In den neunziger Jahren schließlich wurden ehemalige Kasernen, Güterbahnhöfe und Fabrikgelände im Zuge einer Konversionswelle zu neuen Wohnquartieren umgewandelt. Heute allerdings, schreibt die Herausgeberin Christina Simon-Philipp, „bilden viele Wohnbauprojekte nicht mehr als einen austauschbaren Standard ab“. Höchste Zeit daher, gegenzusteuern. Auf dem Spiel steht nicht allein der soziale Zusammenhalt, sondern auch das Stadtbild und das bauliche Erbe.

Mit geballtem Fachwissen

Das Buch – Nachfolgeband der 2004 erschienenen „WohnOrte“ – ist ein mit immensem Fleiß, bewundernswerter Sorgfalt und dem geballten Fachwissen von vierzig Autoren zusammengetragenes Kompendium, das durch die Fülle seiner Angaben zu Architekten, Bauherrn, Bauzeit, Lage im Stadtgebiet, durch Lagepläne und Grundrisse ebenso wie durch Fotos und Literaturhinweise ein einzigartiges Nachschlagwerk über die Stuttgarter Wohnbaugeschichte bis in die heutige Zeit darstellt. Ergänzt werden die Texte durch Aufsätze, die Problemlagen erörtern und Perspektiven für die Zukunft aufzeigen. Für Fachleute ist es ein schier unerschöpflicher Informationsquell. Aber auch als Architekturführer für Normal-Stuttgarter machen sich die „WohnOrte²“ nützlich, weil man mit ihrer Hilfe Stadtbezirke entdecken kann, in die man selbst als Eingeborener noch nie einen Fuß gesetzt hat.