Von Reutlingen in die Welt – der Reporter Wolfgang Bauer hat in Nigeria mit Opfern der Terrorsekte Boko Haram geredet. Jetzt liegen seine Recherchen als Buch vor: „Die geraubten Mädchen“ geben Einblicke in ein dämonisches Herrschaftssystem.

Stuttgart - Wolfgang Bauer ist ein gefragter Mann. Kaum sind wir auf dem Weg zu seinem Lieblingsitaliener, klingelt das Telefon. Am anderen Ende der Leitung: das Deutschlandradio. Die Redakteurin möchte ein Gespräch mit ihm vereinbaren, denn im westafrikanischen Nigeria konnten sich Frauen abermals aus der Gefangenschaft von Boko Haram befreien. Dass sich der in Reutlingen lebende Journalist bei diesem Thema auskennt, hat sich herumgesprochen, seit er im vergangenen August zum ersten Mal von seinen Begegnungen mit Opfern der Terrorgruppe berichtete. Das war im Magazin der „Zeit“, für die er seit 2011 als Reporter arbeitet. Jetzt aber hat er aus dem gesamten, um neue Interviews und Recherchen erweiterten Material ein im Suhrkamp-Verlag erschienenes Buch gemacht: „Die geraubten Mädchen“ – und dieser Titel ist insofern Programm, als Bauer in seiner aufwühlenden Reportage vor allem den Opfern der radikalislamistischen Sekte eine Stimme gibt. Die Interviews mit den entführten, misshandelten und vergewaltigten Mädchen und Frauen machen den Großteil des Buchs aus.

 

„Ich habe einen authentischen Zugang zu den Ereignissen gesucht“, sagt der zuletzt für seine Flüchtlingsreportage „Über das Meer“ preisgekrönte Autor, „da kamen für mich nur die Gespräche mit den verschleppten Frauen in Frage.“ Zweimal ist er deshalb für mehrere Wochen nach Nigeria geflogen. In Yola, einer Stadt hundert Kilometer südlich des Terrorgebiets, hat er im Juli 2015 und abermals im Januar 2016 mehr als sechzig Entführungsopfer gesprochen, denen „die Flucht aus den Sklavencamps von Boko Haram gelungen ist“. Seine Augenzeuginnen gehören zwar nicht zu den Mädchen, die 2014 aus einem Internat in Chibok geraubt wurden und durch die Kampagne „Bring back our girls“ der Weltöffentlichkeit bekannt wurden, aber ihr Leid dürfte sich kaum von jenem der Chibok-Mädchen unterscheiden: „Sie haben mir nur meinen Namen gelassen. Alles andere haben sie mir genommen. Ich bin jetzt jemand, den ich nicht kenne“, sagt die 38-jährige Sadiya in einem der Protokolle, die Bauer in seinem Buch versammelt hat. Neun Monate lang wurde die Marktfrau von Boko Haram gefangen gehalten. Als der Reporter sie interviewte, erwartete sie ein Kind von ihrem Vergewaltiger.

Kollektives und individuelles Leid

Beim Lesen der in stundenlangen Sitzungen aufgenommenen Gespräche mit Sadiya und ihren Leidensgenossinnen stockt einem der Atem. Systematisch wurden die „geraubten Mädchen“ entmenschlicht, sie wurden wie Tiere gehalten und lebten unter Bäumen in jenem „lichtlosen und fast undurchdringlichen Sambisa-Wald“, der als Rückzugsort von Boko Haram zum „Schrecken eines modernen Staates wurde“. Dort waren sie der Verfügungsgewalt der Männer ausgesetzt – und wenn sich der Erinnerungsstrom der Frauen den sexuellen Demütigungen in den Camps nähert, brechen sie das Gespräch ab, verfallen in Schweigen und schauen zu Boden, mit Tränen in den Augen. „Nirgends können einem Menschen tiefere individuelle Wunden zugefügt werden als bei einer Vergewaltigung“, sagt Bauer, „deshalb habe ich auf Nachfragen in solchen Fällen verzichtet: Ich wollte keine Re-Traumatisierung herbeiführen.“

Nachgefragt indes hat er, wenn die Rede nicht auf individuell erlittenes, sondern auf kollektiv beobachtetes Leid kam. Körperliche Züchtigungen, Hinrichtungen und Enthauptungen, die Minuten dauerten, weil sie mit kleinen Messern vorgenommen wurden: an wenigen, aber entscheidenden Stellen schildern die Frauen die Grausamkeiten, zu denen die Kämpfer im „heiligen Krieg“ fähig sind. Und wieder stockt der Atem ob all der Gräueltaten, auch wenn Bauer die Schilderung archaisch enthemmter Gewalt nur punktuell einsetzt: „Ich will keine Effekte, ich will Information und Aufklärung.“ Und tatsächlich ist sein Reisebericht aus dem Herzen der Finsternis trotz aller Unfassbarkeiten kein reißerischer Sensationsbericht geworden, sondern eine auf klassische Art nüchtern beschreibende, auf Bewertungen weitgehend verzichtende Reportage: Je mehr Fakten der Autor liefert, desto heftiger wirkt die Erschütterung über das Schicksal der Opfer nach.