ExklusivWolfgang Schorlau über den NSU Jetzt wurde es ein Fall für Dengler
Ich fragte einige Polizisten, die ich von Recherchen zu früheren Büchern kannte, welchen Sinn die Anwesenheit von zwei bewaffneten Männern am Tatort ergeben könnte. Ich erhielt zwei Antworten. Die erste: vom Standort der beiden vor Demirs Büro wäre es leicht gewesen, die Bombe mit einem Fernzünder explodieren zu lassen. Die zweite: die Männer hätten von dort den Rückzug des Attentäters, der die Bombe, das weiß man heute, auf einem Fahrrad vor einem Friseursalon deponiert hatte, nur wenige Meter von Ali Demirs Büro entfernt, decken können. Wäre etwas schiefgegangen, hätten beispielsweise Passanten den Bombenkurier festgehalten, dann hätten die beiden Bewaffneten den Terroristen aus dem Tumult ziehen können.
Jetzt, nachdem ich Ali Demirs Geschichte gehört und geprüft hatte, wollte ich mehr wissen. Ich hatte als Erzähler Feuer gefangen und war entschlossen, meinen Krimihelden, den Stuttgarter Privatermittler Georg Dengler, mit dieser Sache zu befassen. Ich lernte einige Polizisten kennen, die schon vor der Jahrtausendwende gegen die Neonaziszene in Thüringen ermittelt und die drei Untergetauchten, also Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe, oft vernommen hatten. Sie hatten den Werdegang der drei über Jahre begleitet. Diesen Polizisten stellte ich die Frage, die sich mir beim Lesen der Schlagzeilen gestellt hatte: Wie kann es sein, dass das Trio trotz hohem Fahndungsdruck nicht nur nicht gefasst wurde, sondern mordend, raubend und bombend durchs Land zog, ohne dass jemand etwas merkte?
Alle im Raum wussten Bescheid
Die Reaktion in den Gesichtern: Betroffenheit, Wissen, Hilflosigkeit. Wieder erzählte mir jemand eine Geschichte hinter der Geschichte. Zunächst: der Fahndungsdruck war nicht hoch, wie ich annahm. Die inoffizielle (vermutlich zutreffende) Story zum Abtauchen des terroristischen Trios liest sich so: Im September 1997 entdecken Kinder auf dem Platz vor dem Theater in Jena einen Koffer, der mit einem Hakenkreuz bemalt ist. In dem Koffer befindet sich eine Bombe ohne Zünder, eine Attrappe, nichts Ungewöhnliches im Thüringen der damaligen Zeit, aber zum ersten Mal ist in dieser Attrappe zündfähiges TNT. In einer diesem Fund folgenden Besprechung von Polizisten des Thüringer LKA mit Beamten des dortigen Amts für Verfassungsschutz erklären Polizisten sinngemäß: Jeder hier im Raum wisse, wer die Bombenbauer seien, nämlich die Rechtsradikalen vom Thüringer Heimatschutz, aber auch, dass die Anführer dieser Bande V-Leute des Verfassungsschutzes seien. Jetzt, da TNT im Spiel sei, das von Kindern gefunden worden sei, sei man nicht länger bereit, die Machenschaften des Landesamtes mitzutragen. Es gab große Aufregung und Vorwürfe von beiden Seiten.
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